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Die Karl-Franzens-Universität ist die größte und älteste Universität der Steiermark. Hier lehrte Prof. Hans Gross.
© Foto: de:user:Dr. Marcus Gossler (Own work), Wikimedia Commons | Lizenz: CreativeCommons by-sa-3.0

Hans Gross, Begründer der modernen Kriminalwissenschaften

Von Werner Sabitzer

Am 9. Dezember 2015 jährte sich der 100. Todestag von Prof. Hans Gross. Der österreichische Strafrechtsprofessor gilt als Begründer der modernen Kriminalwissenschaften.
Vor 100 Jahren, am 9. Dezember 1915, starb Prof. Hans Gross in seiner Heimatstadt Graz. In seinem Testament hatte er verfügt, „jede Art irgendeiner Aufbahrung mit Lichtern, Blumen und sonstigem Zeug ... unbedingt zu unterlassen“.
Tatsächlich zählt Hans Gross zu den berühmtesten Söhnen der steirischen Hauptstadt. Der Strafrechtsprofessor gilt als der Begründer der wissenschaftlichen Prof. Hans Gross (Büste von Gustinus Ambrosi in der Aula der Universität Graz).
© Autor
Kriminologie, sein „Handbuch für Untersuchungsrichter“ war mehr als ein halbes Jahrhundert das Standardwerk für Richter, Staatsanwälte und Kriminalisten und wurde in viele Sprachen übersetzt. Heute noch sind viele seiner Erkenntnisse unverzichtbare Bestandteile in der Kriminalitätsbekämpfung.

Hans Gustav Adolf Gross wurde am 26. Dezember 1847 in Graz geboren. Sein Vater war Oberkriegskommissar und sein Urgroßvater Richter am Weimarer Kammergericht. Hans Gross besuchte die Schule im Stift Admont in der Steiermark, maturierte am I. Staatsgymnasium in Graz und studierte Rechtswissenschaften. Nach der Promovierung 1871 zum „Doctor beider Rechte“ war er als Advocatenadjunkt (Rechtsanwaltsanwärter) tätig. 1875 wechselte er in den Gerichtsdienst. Er wurde Untersuchungsrichter in Leoben, danach Staatsanwalt und Senatsvorsitzender am Appellationsgericht Graz. 1898 erhielt er seine erste Professur – und zwar für Straf- und Strafprozessrecht in Czernowitz, das damals zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte. Ab 1902 lehrte er an der Deutschen Universität in Prag und 1905 kam er in seine Heimatstadt Graz zurück, wo er an der Karl-Franzens-Universität Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht wurde. Einer seiner Studenten in Prag war Franz Kafka, der später die Themen Strafen und Strafvollzug in seinen Werken „Der Prozess“, „Das Schloss“ und „In der Strafkolonie“ in düsterer Weise behandelte.

„Handbuch für Untersuchungsrichter“

Das Hauptwerk von Hans Gross, das zweibändige „Handbuch für Untersuchungsrichter“, erschien erstmals 1893 und behandelte die Kriminalitätsformen, das „Wesen der Verbrecher“ und deren Methoden. Das Handbuch enthielt praktische Ratschläge für das Vorgehen am Tatort. Gross stellte eine „Kommissionstasche“ zusammen; sie Prof. Hans Gross.
© Universitätsarchiv Graz
enthielt Utensilien, die der Untersuchungsrichter am Tatort benötigte. Bis 1913 erschienen sechs Ausgaben des „Handbuchs des Untersuchungsrichters“. Ab der dritten, 1898 erschienenen Auflage trug das Werk den Zusatz „System der Kriminalistik“ und ab der vierten Auflage (1904) wurde das Handbuch wegen des Umfangs in zwei Bände geteilt.

Mit dem „Handbuch für Untersuchungsrichter“ strebte Gross eine Habilitation an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz an; die verantwortlichen Beamten im Ministerium für Kultus und Unterricht vertraten allerdings die Ansicht, dass sich das Fach „Kriminalistik“ als Lehrgegenstand für Studenten an der Universität nicht eigne, sondern erst für Richter in der Ausbildung sinnvoll sei. Die Ministerialbeamten betrachteten Kriminalistik als „keine eigene Wissenschaft“, sondern als ein Konglomerat aus verschiedenen Wissenschaften.

Das „Handbuch für Untersuchungsrichter“ erschien nach dem Tod Hans Gross' weiter: Die siebente Auflage wurde 1922 von Generalstaatsanwalt Erwein Höpler herausgegeben und für die achte und neunte Auflage (1942: 1. Band; 1954: 2. Band) war Prof. Ernst Seelig verantwortlich, ein Schüler von Hans Gross. Auf der Grundlage des „Handbuchs für Untersuchungsrichter“ veröffentlichte Prof. Friedrich Geerds (Universität Frankfurt am Main) später das zweibändige „Handbuch der Kriminalistik – Wissenschaft und Praxis der Verbrechensbekämpfung“, in dem er Hans Gross als Mitherausgeber anführte.

Kriminalpsychologie

Das zweite große Werk war die 1898 in Graz erschienene „Criminalpsychologie“ (später: „Kriminalpsychologie“), laut Gross „eine Zusammenstellung aller Lehren der Psychologie, welche der Criminalist bei seiner Arbeit nothwendig hat“. Gross befasste sich in diesem Werk, das er als Ergänzung zum „Handbuch für Untersuchungsrichter“ betrachtete, mit der „psychischen Thätigkeit“ der Richter und der Vernommenen und vor allem mit der Erforschung der Täterpersönlichkeit.

1894 erschien das „Lehrbuch für den Ausforschungsdienst der k. k. Gendarmerie“. In diesem Werk forderte Gross erstmals, Hunde zur Aufklärung bestimmter Straftaten einzusetzen.

Seine zahlreichen Aufsätze erschienen 1902 und 1908 in zwei Sammelbänden. 1898 gründete er die Zeitschrift „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“.

1901 veröffentlichte Gross die „Encyclopädie der Kriminalistik“. Darin beschreibt er detailreich Erscheinungsformen der Kriminalität und die Tätertypen. Seine Erkenntnisse und Vermutungen sind ein Stück Kulturgeschichte: „Der Bauernknecht stiehlt Weizen und der Holzfäller wird zum Wilddieb, um seine Braut heimführen zu können oder das Erbeutete mit Dirnen zu verprassen. Der Mädchen wegen entstehen die meisten Raufereien auf dem Tanzboden, und das sicherste Versteck für Geraubtes ist bei einer unschuldig aussehenden Frauen, wie denn auch das Fliehen und Verbergen von Verbrechern meistens mit Hilfe von Frauen geschieht“, schreibt Gross in seiner „Encyclopädie der Kriminalistik“.

Lehrmittelsammlung

1896 richtete Hans Gross in Graz eine Lehrmittelsammlung ein, die erste dieser Art in Europa. Sie diente zur Ausbildung von Studenten, Untersuchungsrichtern und Kriminalbeamten. Bei den meisten Objekten handelte es sich um Beweismittel. Gross war überzeugt, dass Zeugenaussagen nicht zuverlässig seien, vom Sachbeweis erwartete er sich eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit der Aufklärung einer Straftat.

Nach dem Begründer der modernen Kriminalwissenschaften wurde in Graz eine Straße benannt.
© Autor
Ein Hauptziel von Hans Gross war es, das rechtswissenschaftliche Studium mit einer realwissenschaftlichen Verbrechens- und Verbrecherlehre zu ergänzen: „Was würde man sagen, wenn man einen Arzt heranbilden und auf die Menschheit loslassen würde, ohne ihm einen Kranken, das Innere eines Menschen gezeigt zu haben, wenn man ihm viel erzählt, ihm aber nichts davon gezeigt hätte, wenn ihm Medikamente und ihre Wirkung ebenso wenig vorgeführt worden wären als alle Erscheinungen am gesunden und kranken Organismus – kurz wenn man ihn so unterrichtet hätte, wie man einen Juristen erzieht, mit Büchern und Vorlesungen. So geschieht es in der Tat. Der Jurist absolviert seine Studien, macht seine Prüfungen und tritt an die praktische Tätigkeit, ohne einen Verbrecher oder das gesehen zu haben, was der Verbrecher macht und tut.“

„Grazer Schule der Kriminologie“

Das 1912 von Hans Gross eingerichtete „k. k. Kriminalistische Institut an der Universität Graz“ war weltweit das erste Institut dieser Art und diente als Vorbild für spätere derartige Einrichtungen. Das Institut bestand aus einer Bibliothek, einem Laboratorium, der Lehrmittelsammlung (Kriminalmuseum) und der Kriminalistischen Station: Hier führte Gross mit den Studenten über Ersuchen von Gerichten, Staatsanwaltschaften oder Polizeibehörden kriminologische Untersuchungen durch und erstellte Gutachten, z. B. Fuß- und Fingerspuren, Hand- und Maschinschriftenvergleiche, Werkzeugspuren, Identifikation von Haaren und waffentechnische Untersuchungen.

Das Kriminalmuseum bestand aus 32 Objektgruppen, darunter befanden sich Objekte aus der Gerichtsmedizin, Präparate, Giftstoffe, Projektile, Blutspuren, Fußspuren, Papillarlinien der Finger, gefälschte Urkunden, Kunstgegenstände und Stempel, Karten und Würfel von Falschspielern, Einbruchs- und andere Tatwerkzeuge, Brandlegungsapparate, Fotografien, Handschriften und andere Informationen von Kriminellen, Eingaben von „Querulanten“ und „Narren“, Chiffrenschriften, Lokalaufnahmen von wichtigen Tatorten, Restaurierungen von zerrissenem, aufgeweichtem, vergilbtem, verkohltem Papier samt Angaben über die dabei angewandten Methoden und Waffen. Das Museum enthielt auch eine Sammlung von Gaunerzinken (Verständigungszeichen von Kriminellen) und Ausdrücke aus der Gaunersprache, ebenso Gegenstände des Aberglaubens, die Gross für wichtig hielt, weil sie in vielen Fällen Rückschlüsse auf das Tatmotiv und die Begehungsweise gaben.

Die Vorträge befassten sich mit den Schwerpunkten Kriminalistik, Kriminalpsychologie, Kriminalanthropologie und Kriminalstatistik. Das wissenschaftliche Organ des Instituts war das „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“.

Hans Gross erlangte Weltruf mit seinen Werken, er galt als „Begründer der wissenschaftlichen Kriminologie“; seine „Grazer kriminologische Schule“ wurde weltweit anerkannt.

Vorurteile

Antiziganismus war noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Gesellschaft stark ausgeprägt. Beispielsweise forderte der Reichsratsabgeordnete Karl. M. Iro von der Alldeutschen Partei („Schönerianer“) 1908 die „Beseitigung der Zigeunerplage“. Er forderte, „Zigeuner“ unter polizeiliche Aufsicht zu stellen und sie am Unterarm zu tätowieren.

Mehr von Vorurteilen geprägt als von kriminalistischen Fakten war auch die Meinung von Prof. Hans Gross über die „Zigeuner“. In seinem „Handbuch für Untersuchungsrichter“ widmete er einen eigenen Abschnitt über „Die Zigeuner, ihr Wesen und ihre Eigenschaften“. Im Kapitel „Wie der Zigeuner stiehlt“ schrieb Gross: „Nur sein Geruch bleibt zurück, sein eigenthümlicher, unverkennbarer, lange haftender Geruch, den niemand vergißt, der ihn einmal wahrgenommen hat. Er soll dem, wie es heißt, ebenfalls höchst charakteristischem Negergeruch in etwas ähnlich sein.“ Im „Handbuch für Untersuchungsrichter als System der Kriminalistik“ heißt es: „Der Zigeuner ist anders als jeder Kulturmensch, selbst von der rohesten und verkommensten Gestalt, und alles, was man im Verkehre mit zahlreichen anderen gelernt und geübt hat, ist nicht zu brauchen, wenn man mit dem Zigeuner zu tun hat.“ Und: „Er balgt und rauft mit seinem Nebenbuhler, aber das tut das Tier auch, Ehre und Scham im Sinne des Kulturmenschen kennt der Zigeuner nicht.“ Extreme Vorurteile finden sich auch in der „Encyclopädie der Kriminalistik“ von Gross: „Feigheit ist das sicherste Kennzeichen des Zigeuners; eine That, bei der Muth nothwendig ist, hat der Zigeuner nicht begangen. Alle Erzählungen von Zigeunern, nach welchen sich dieselben nicht feige benommen hätten, meinen nur scheinbaren Muth.“ Oder: „Kinderdiebstahl durch Zigeuner kommt vielleicht nur gegen rothaarige Kinder vor, da diese ,Sonnenhaare‘ glückverheißend sind ...“

Vater-Sohn-Konflikt

Sigmund Freud,
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Dramatisch verlief die Beziehung des nationalkonservativen Strafrechtsprofessors zu seinem 1877 geborenen Sohn Otto, der Zoologie und später in Graz, München und Straßburg Medizin studierte. Nach der Promovierung zum Doktor der gesamten Heilkunde 1899 in Graz arbeitete er als Assistenzarzt in Frankfurt und 1901 als Schiffsarzt auf dem Dampfer einer Hamburger Linie. Die Schiffsreisen führten ihn nach Südamerika, wo er begann, Kokain zu konsumieren. In München und Graz absolvierte er die psychiatrische Ausbildung. 1902 verbrachte Otto Gross wegen seiner Kokainsucht den ersten Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik. 1904 traf er sich erstmals mit dem Psychoanalytiker Sigmund Freud. Otto Gross verkehrte mit Anarchisten und Dadaisten und schloss sich 1906 Aussteigern an, die auf dem Monte Veritá bei Ascona lebten, die freie Liebe praktizierten, ausgiebig Alkohol, Kokain und andere Drogen konsumierten und sich mit revolutionären Gesellschaftsmodellen auseinandersetzten. Eine der Thesen von Otto Gross lautete, nur durch sexuelle Freizügigkeit könne man sich von den „patriarchalischen Herrschaftsmodellen“ befreien.

Mehrere stationäre Aufenthalte in Kliniken in der Schweiz zur Heilung seiner Drogensucht schlugen fehl. Sigmund Freund brachte Otto Gross dazu, sich in eine Anstalt zum Drogenentzug zu begeben. Dort hielt es Gross nicht aus, er sprang über die Anstaltsmauer. Im Jahr 1913 ließ ihn sein Vater in die Privat-Irrenanstalt Tulln einweisen und 1914 entmündigen. Nach einigen Monaten konnte Otto Gross die Anstalt verlassen. Er freundete sich mit Franz Kafka an und wollte mit ihm eine Zeitschrift herausgeben, mit dem Titel „Blätter zur Bekämpfung des Machtwillens“. Es kam nicht mehr dazu. Otto Gross wurde im Februar 1920 in Berlin halb verhungert und frierend auf der Straße aufgefunden. Einige Tage später war er tot.


Quellen/Literatur:

Bachhiesl, Christian: Zwischen Indizienparadigma und Pseudowissenschaft. Wissenschaftshistorische Überlegungen zum epistemischen Status kriminalwissenschaftlicher Forschung. LIT Verlag, Wien/Berlin, 2012.

Becker, Peter: Zwischen Tradition und Neubeginn: Hans Gross und die Kriminologie und Kriminalistik der Jahrhundertwende. In: Götz von Olenhusen, Albrecht; Heuer, Gottfried (Hg.): Die Gesetzes des Vaters. 4. Internationaler Otto Gross Kongress, Marburg an der Lahn 2005; S. 290-309.

Döhring, Erich: Groß, Hans. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 7, Duncker & Humblot, Berlin, 1966.

Gross, Hans. In: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950 (ÖBL). Band 2, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien, 1959, S. 74.

Gross, Hans; Geerds, Friedrich: Handbuch der Kriminalistik. Wissenschaft und Praxis der Verbrechensbekämpfung. Band I: Die Kriminalistik als Wissenschaft – Die Technik der Verbrechen – Kriminaltechnik. Schweitzer Verlag, Berlin, 1977. Band II: Kriminaltaktik – Die Organisation der Verbrechensbekämpfung. Schweitzer Verlag, Berlin, 1978.

Seelig, Ernst: Hans Groß. Sein Leben und Wirken. Gedenkrede, gehalten bei der Feierstunde in der Aula der Universität zu seinem 25. Todestag am 9. Dezember 1940. In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 36, 1943; S. 109-120.

Über den Autor
Werner Sabitzer
Werner Sabitzer
Werner Sabitzer, MSc, 63, war 30 Jahre lang Pressereferent im österreichischen Bundesministerium für Inneres (BMI) und Chefredakteur der Fachzeitschrift „Öffentliche Sicherheit“. Er ist seit 2018 Referent für Polizeigeschichte und Traditionspflege im BMI und leitet das Polizeimuseum Wien.
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