Folgen der Flüchtlingswelle

Ein Wiedererstarken von Parallelgesellschaften?

Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 steht der Islam im öffentlichen Diskurs des Westens immer wieder am Pranger. Dabei werden allzu häufig sozio-ökonomische Probleme wie zum Beispiel die Ausschreitungen muslimischer Jugendlicher in französischen Vororten von Paris als solche verkannt und stattdessen als religionsspezifische abgehandelt. In Deutschland scheint vor allem nach der Silvesternacht dieses Jahres und den damit verbundenen zahlreichen Übergriffen auf Frauen, an denen vermeintlich auch einige Asylbewerber beteiligt waren, bereits Erklärungsansätze gefunden zu haben.

Ganz gleichgültig, ob im Zusammenhang mit der Silvesternacht, der Empörung über die „Scharia Polizei“ in Wuppertal im Sommer 2014 oder terroristischen Anschlägen, die Idee multikultureller Gesellschaften sowie vor allem die von Bundeskanzlerin Angela Merkel propagierte „Willkommenskultur“ in Bezug auf die Flüchtlingswelle aus vorwiegend muslimisch geprägten Ländern geraten zunehmend in Verruf. Obwohl vieles noch unklar ist und die wenigsten mit der Terminologie wirklich vertraut sind, findet der Begriff sogenannter „Parallelgesellschaften“ seitens der Medien, Politik und Justiz immer häufiger Verwendung. Mit „Parallelgesellschaften“ sind von ehemaligen Migranten aufgebaute ethnisch homogene Bevölkerungsgruppen innerhalb der deutschen Bevölkerung gemeint, die sich räumlich, sozial und kulturell isolieren, und deren Mitglieder zugleich immense Kritik bezüglich ihrer Lebensweise erfahren. Als Begleiterscheinung des Phänomens der „Parallelgesellschaft“ wird oft die Gefahr der Entstehung von „parallelen Rechtssystemen“ thematisiert. Eines der bekanntesten Werke zu diesem Thema ist Joachim Wagner’s „Richter ohne Gesetze: Islamische Paralleljustiz gefährdet unseren Rechtsstaat“. Wagner diskutiert in seiner Recherche die Einmischung ‚islamischer Mediatoren’ in laufende Strafprozesse, welche oft zum plötzlichen Zurückziehen von Zeugenaussagen oder von Strafanzeigen führen. Basierend auf seiner weiterführenden Argumentation handelt es sich hierbei um parallele „Scharia Gerichte“, welche sich in Deutschland nicht nur profilieren, sondern zudem den deutschen Rechtsstaat aushöhlen und den Rechtsschutz von schwächeren Parteien wie zum Beispiel Frauen und das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz gefährden. Dass die von Wagner angesprochenen parallelen Justizsysteme jedoch viel mehr auf dem Gewohnheitsrecht von großen Familienclans basieren und diese nicht religiöser Natur sind, wird dabei oft übersehen. Das Fehlen einer tragfähigen und kompetenten Integrationspolitik oder das Ausbleiben eines Aufenthaltstitels oder einer Arbeitserlaubnis als Entstehungsursachen für Parallelgesellschaften wurden von Dr. Mahmoud Jaraba, Experte auf dem Gebiet der Integrationsforschung in Deutschland, in den letzten Jahren genauer untersucht.

 

I n t e r v i e w

Herr Dr. Jaraba, was dürfen wir uns unter „Parallelen Justizsystemen“ im deutschen Kontext vorstellen und welche Rolle spielen islamische Gesetze (Scharia Recht) dabei?

Dr. Mahmoud Jaraba: Das Konzept von Scharia Gerichten wird in den deutschen Medien und der öffentlichen Debatte missinterpretiert. Wenn man die von Dr. Mahmoud Jaraba, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Nahostpolitik, Muslime, Scharia und Paralleljustiz in Deutschland, islamische Mediation und Schlichtung sowie zum Arabisch-Israelischen Konflikt.muslimischen Akteuren angewandten „Alternativen Konfliktresolutionsmechanismen“ alle gleich behandelt, ignoriert man dabei die Vielzahl an verschiedenen Akteuren, Anwendungsmethoden, aber auch Beziehungsverhältnisse zwischen diesen Akteuren und den deutschen Behörden. Zweijährige Feldforschungen haben sogar ergeben, dass religiöse Akteure zum einen nur einen Bruchteil von den relevanten Akteuren innerhalb der muslimischen Gemeinschaft darstellen, und zum anderen Religion nur eine geringfügige Motivationsgrundlage für parallele Rechtssysteme darstellt. Eins der beiden prävalentesten parallelen Rechtsysteme innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Deutschland basiert auf jahrtausendealtem ‚Gewohnheitsrecht’ von zahlreichen Familienclans und das andere auf glaubensbasierender Mediation oder Schlichtungsverfahren. Während Scharia Gesetze und religiöse Normen die Basis letzteren Verfahrens darstellen, basiert das Gewohnheitsrecht von Familienclans auf gemeinschaftlich vereinbarten ungeschriebenen Regeln, bei denen Religion entweder gar keine Rolle spielt oder im Falle eines Konflikts dem Gewohnheitsrecht untergeordnet wird. Allerdings können wir nur bei Gewohnheitsrecht von einer wirklichen Paralleljustiz sprechen, da dieses notfalls auch mittels Einschüchterung der schwächeren Seite oder gegen den Willen einer der beiden Konfliktparteien vollzogen wird. In solchen Fällen greifen Stammesmitglieder dann oft in laufende Strafrechtsverfahren ein um Konflikte durch traditionelle Methoden zu klären. Und selbst wenn ein Strafverfahren auf staatlicher Ebene abgehandelt wird, werden dieselben Fälle parallel durch ‚Stammesverfahren’ separat behandelt. So kann es beispielsweise sein, dass ein Mord durch ein deutsches Gericht verhandelt wird und gleichzeitig der Familienclan des Täters in Form eines ‚Stammesverfahrens’ zu Kompensationszahlungen an die Opferfamilie verpflichtet wird. Derartige Verfahren sind darauf ausgelegt, den Konflikt dauerhaft beizulegen und einer endlosen Rachegewaltspirale vorzubeugen. Diese Art der parallelen Rechtssysteme beziehen sich aber nur auf manche Familienclans und nicht auf alle in Deutschland lebenden muslimischen Familienclans aus dem Nahen Osten. Im Gegensatz hierzu beruht die religionsbasierte Mediation oder Arbitration auf der Freiwilligkeit und Neutralität des Mediators und kommt vorwiegend in Familiendisputen zum Tragen.

Sie haben erwähnt, dass die „Stammesgerichtsbarkeit“ nicht immer auf freiwilliger Teilnahme besteht, wie darf man sich das in der Praxis vorstellen?

Im Lauf meiner Feldforschungen und zahlreicher Interviews habe ich einen Algerier getroffen, der keinem bedeutenden Familienclan angehört. Er berichtete mir von einem Autounfall mit einer Person, die einer der bekanntesten und in Berlin ansässigen Familienclans angehört. Als er die Polizei benachrichtigen wollte, bestand der Bruder des anderen Unfallfahrers darauf, das Problem intern durch entsprechende Schadensersatzzahlungen zu lösen, jedoch ohne die Involvierung von deutschen Behörden. Da der Algerier jedoch auf das Einschalten der Polizei bestand, fand er sich innerhalb kürzester Zeit von 40 bis 50 Familienclanmitgliedern des Unfallverursachers umringt. Als er daraufhin unmittelbar die Polizei rufen wollte, wurde er von den Clanmitgliedern brutal zusammengeschlagen. Dieser Fall, in dem eine Konfliktpartei (Algerier) noch nicht einmal einem relevanten Familienclan angehört, belegt zwei Tatsachen sehr deutlich: Zum einen die absolute Verweigerung einiger Familienclans, Konflikte und Gesetzesbrüche durch deutsche Behörden und Gerichtsbarkeit zu lösen, und zum anderen die Rechtsverletzung und Gefährdung der schwächeren Konfliktpartei.

Welche Ursachen liegen der Herausbildung dieser Paralleljustiz in den letzten Jahren zugrunde?

Deutschland erlebte durch die so genannten „Gastarbeiter“ aus Ländern wie der Türkei oder Griechenland seit Anfang der 60-er Jahre seine erste Einwanderungswelle. Seit der Ölkrise 1973 und der Verschlechterung der Wirtschaftslage stellten jedoch Asylsuchende, vor allem aus dem Libanon, Iran, der Türkei, Rumänien und dem ehemaligen Jugoslawien, die größte Migrantengruppe dar. Als sich jedoch hauptsächlich mit den im Libanon lebenden kurdischen Familienclans und den aus libanesischen Flüchtlingslagern stammenden Palästinensern die Zahl der Asylsuchenden zwischen 1980 und 1992 plötzlich vervierfachte, wurde das Asylrecht deutlich verschärft. In diesem Zusammenhang haben sich oft ganze Familienclans in deutschen Städten niedergelassen. Obwohl das veränderte Asylrecht Asylsuchenden einen permanenten Aufenthaltstitel verweigerte, wurden sie gleichzeitig wegen der Genfer Konvention nicht deportiert. Somit entstand eine Situation, in der sie zwar in Deutschland geduldet, ihre sozialen und wirtschaftlichen Rechte jedoch stark eingegrenzt wurden. Vom Zugang zum Arbeitsmarkt häufig ausgeschlossen, waren sie auf Sozialhilfe angewiesen. Da für Flüchtlingskinder zugleich die Schulpflicht aufgehoben wurde, und diese so von Schulen oft abgewiesen wurden, entstand über viele Jahre hinweg eine ‚verlorene Generation’. In einigen Fällen musste für die Schulbildung eines Flüchtlingskindes in Berlin gar die Erlaubnis des Berliner Senats eingeholt werden, da die besagten Kinder den für die Einschulung nötigen permanenten Wohnsitz in Deutschland nicht vorweisen konnten.

Als Resultat dessen kam es zu einer wachsenden Isolierung dieser Migrantengemeinschaften von der deutschen Gesellschaft. Laut einer arabischen Sozialarbeiterin in Berlin, zielte die Verweigerung einer nachhaltigen Integrationspolitik der deutschen Regierung darauf ab, Immigranten dazu zu bewegen, in ihre Länder zurückzukehren. Anstatt dessen führte diese Politik aber zur Entstehung von Parallelgesellschaften, die sich in ethnischen Enklaven, fernab und isoliert von der deutschen Kultur und Institutionen, zunehmend abschotteten. Da diese Gemeinschaften zusätzlich regelmäßig in Asylheimen von rechtsradikalen Gruppen angegriffen wurden, entstand Schritt für Schritt auch eine Paralleljustiz. Von der deutschen Polizei fühlten sie sich dabei meist im Stich gelassen.“

Können Sie noch näher darauf eingehen?

Ich denke am besten lässt sich dies durch die Aussage von Ahmed, einem libanesischen Flüchtling, der seit den 80er Jahren in Deutschland lebt, illustrieren. Laut ihm wurden vor allem seit den frühen 90er Jahren Asylheime zunehmend von Neo-Nazis angegriffen und in Brand gesetzt. Die zum Schutz bestellte Polizei verließ ihre Posten oft nach zwei Tagen wieder. Da der Staat in den Augen der Heimbewohner nicht im Stande war, für Sicherheit zu sorgen, organisierten sich die männlichen Heimbewohner, bewaffnet mit Baseballschlägern, selbst und teilten Wachschichten ein. Da die meisten Asylbewerber ohnehin aus Konfliktgebieten stammten, waren sie mit dem Lösen derartiger Situationen bereits bestens vertraut. In dieser Situation befürchteten die meisten Flüchtlinge auch das Aussterben ihrer eigenen kulturellen Identität. Langfristig führte dies dazu, dass sich viele Flüchtlinge, basierend auf der Solidarität einzelner Familienclans, in Nachbarschaften zusammenschlossen, um den Problemen gemeinsam entgegenzuwirken. In ihrem Versuch, sich selbst zu organisieren, entdeckten dabei viele Familienclans ihre alten Traditionen und Konfliktlösungsmechanismen wieder. Die Anfänge der parallelen Justizsysteme lassen sich daher auf diese Situation zurückführen. Familienclans dieser Art umfassen dabei zum Teil mehrere tausende Mitglieder, die sich in verschiedenen europäischen Ländern angesiedelt haben und deren Solidarität auf Blutsverwandtschaft basiert. Der soziale und wirtschaftliche Zusammenhalt innerhalb dieser Familienclans ist dabei so weitreichend, dass in einem Konfliktfall eines Familienmitglieds im Süden Deutschlands Stammesmitglieder aus anderen Städten jederzeit zu Hilfe und Schutz eilen würden. Ob ein Familienmitglied in einem Konflikt dabei im Recht oder Unrecht ist, spielt erstmal keine Rolle, denn der Schutz bzw. die Verteidigung der besagten Person besitzt so oder so oberste Priorität.

 

Aus welchen Gründen entscheiden sich Clanmitglieder, Konflikte untereinander und vor allem jenseits jeder staatlichen Kontrolle und Einflussnahme auszutragen?

„Clanmitglieder betrachten ihre eigenen Konfliktlösungsmechanismen in der Regel als effektiver, schneller und frei von bürokratischen Hürden. Während manche Gerichtsentscheidungen Jahre in Anspruch nehmen, können die gleichen Konflikte mittels der Anwendung von Gewohnheitsrecht oft innerhalb weniger Tage geregelt werden. Abgesehen davon erachten die betroffenen Familienclans deutsche Behörden aber auch als Gefahr für ihre eigene kulturelle Identität, Familienstruktur und Lebenswandel. Dies betrifft vor allem auch das Rollenverständnis in Bezug auf Frau und Mann. Man muss bedenken, dass die Idee der rechtlichen Gleichstellung zwischen Männern und Frauen sowie die wirtschaftliche Emanzipation der Frau für viele nahöstliche Einwanderer eine neue Realität darstellte. In der kulturellen Assimilation befürchteten viele Familienclans daher das Erodieren ihrer eigenen Familienstruktur und Lebensgewohnheiten. Dabei stellte sie vor allem die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt vor große Herausforderungen. Alle der von mir interviewten Anführer verschiedener Familienclans sind der Überzeugung, dass das Jugendamt darauf abzielt, den Kern ihrer Familienstruktur zu zerstören, um sie dem deutschen Lebensstil anzugleichen.“

In welchen Bereichen kommt diese Paralleljustiz hauptsächlich zum Tragen?

Meine Recherchen haben ergeben, dass Stammesrecht vor allem in drei Bereichen angewandt wird. Einerseits werden familieninterne Konflikte z.B zwischen Eltern und Kindern so geregelt und andererseits werden auf diese Weise auch Konflikte zwischen Mitgliedern des gleichen Familienclans gelöst. Aber auch Konflikte zwischen Mitgliedern verschiedener Familienclans werden auf diese Art und Weise ausgetragen. Dabei geht es vor allem darum, den internen Zusammenhalt zu bewahren, zum Zweck der Schadensbegrenzung und der Vermeidung von Racheakten.

Wenn es nun zu einem Konflikt kommt, an wen wenden sich die Betroffenen oder Rechtsgeschädigten dann in diesem Fall? Wer sind die Handlungsakteure, welche folglich die Staatsgewalt in ihre eigene Hand nehmen und so parallele Rechtssysteme forcieren?

Entgegen dem deutschen Volksglauben handelt es sich hierbei nicht vornehmlich um muslimische Scharia Richter oder muslimische Mediatoren. Im Gegenteil, gerade Familienclans stehen der Religion beim Austragen von Konflikten oft sehr fern. Insgesamt müssen wir vor allem zwischen Stammesführern, Friedensrichtern und religiösen Mediatoren unterscheiden, wenn wir von parallelen Justizsystemen in muslimischen Gemeinschaften sprechen. Friedensrichter arbeiten nicht für einen bestimmten Familienclan und lassen sich ihre Dienste teuer bezahlen. Des Weiteren unterhalten sie in der Regel gute Beziehungen zu den Anführern aller Familienclans.

Besonders für Muslime, die allein in Deutschland angekommen sind und die auf keine ausgedehnte Familienstruktur zu ihrem eigenen Schutz zurückfallen können, stellen sie eine interessante Option dar. Oft werden sie jedoch dafür kritisiert im Sinne jener Konfliktpartei zu entscheiden, welche das höhere Honorar bezahlt. Die Anführer der Familienclans hingegen arbeiten unentgeltlich. Diese sind keineswegs Rechtsexperten, müssen aber ein fundiertes Wissen über die Traditionen und ungeschriebenen Regeln und Gewohnheiten ihres Familienclans besitzen. Diese Position wird dabei vererbt. Während manche Familienclans einen Stammesführer haben, besitzen andere hingegen einen Familienrat, der Angelegenheiten regelt. In Konfliktfällen beauftragen die Betroffenen regelgemäß ihren Stammesführer, eine Lösung des Konflikts auszuhandeln. Die Entscheidung dieser Verhandlungen ist für alle Betroffenen verpflichtend und ihre Einhaltung wird wenn nötig auch durch Einschüchterung, Familienclanausschluss oder Gewaltanwendung erzwungen.

Religiöse Mediatoren hingegen haben mit organisierter Kriminalität nichts zu tun. Bei ihnen handelt es sich entweder um Imame oder selbst ernannte religiöse Richter, die bei Familienangelegenheiten von konservativen und religiösen Familien zu Rate gezogen werden. Die Entscheidungen der Mediatoren stellen jedoch lediglich eine Empfehlung dar, deren Einhaltung nicht erzwungen werden kann. Im Vergleich zu Imamen besitzen selbst ernannte Richter nicht notwendigerweise ein fundiertes Wissen in der islamischen Gesetzgebung und werden zudem auch für ihre Dienste bezahlt. Das ist vor allem aufgrund eines Mangels an offiziell anerkannten islamischen Institutionen entstanden, an die sich Muslime wenden können. Oftmals entsteht auch ein Vakuum bei Mediationsfällen, deren Mediation von Imamen abgelehnt wurde. Da diese Richter ihre Dienste ohne religiöse Legitimation vollziehen und somit oft Chaos verursachen, wird ihre Arbeit von den Moscheen selbst abgelehnt.

Können Sie den Zusammenhang bzw. die Verbindung von Parallelgesellschaften und organisierter Kriminalität näher erläutern?

Da viele der neu angekommenen Einwanderer und Flüchtlinge in den 1970er und 80er Jahren weder Zugang zum Arbeitsmarkt noch zu Bildung hatten, beteiligten sich viele an Drogengeschäften. Diese Betätigung stellt sich als finanziell äußerst lukrativ heraus, so dass viele in einer vergleichsweise kurzen Zeit reich wurden. In manchen Fällen waren die Geschäfte derart lukrativ, dass man Angestellte anheuern musste. Da es sich aber um ein diffiziles Geschäft handelte, wurden diese Jobs nur intern an Mitglieder des eigenen Familienclans vergeben. Für die Polizeiarbeit stellt dies notgedrungen eine immense Herausforderung dar, denn viele Drogengeschäfte basieren auf Familienclans und sind schwierig zu penetrieren und zu verstehen. Man könnte sogar sagen, dass mancher Familienclan anfing, ein kriminelles Netzwerk zu dominieren oder gar zu übernehmen. Wenn wir dann noch in Betracht ziehen, dass einige Familienclans mehrere tausend Mitglieder besitzen und in mehreren Ländern ansässig sind, kristallisiert sich schnell ein Netzwerk international organisierter Kriminalität heraus. Sofern man einmal in ein derartiges Netzwerk verstrickt ist, wird der Ausstieg so gut wie unmöglich.

Die größte Gefahr sehe ich noch darin, dass wir in den letzten 10 bis 15 Jahren eine Transformation innerhalb dieser Parallelgesellschaften und ihrer Konfliktlösungsmechanismen feststellen konnten. Es ist keine Neuheit, dass kriminelle Netzwerke ihre Gelder in legitimen Geschäften wie zum Beispiel durch das Betreiben von Restaurants oder ähnlichem versuchen, wieder reinzuwaschen. Viele Familienclans begannen jedoch Sicherheitsfirmen zu eröffnen. Aus mehreren Interviews mit Vertretern dieser Firmen ging hervor, dass sie bereits des Öfteren Regierungsprojekte an Land gezogen haben und so ihre Geldmittel beziehen.“

In Deutschland werden Parallelgesellschaften oder -justizsysteme oftmals als ‚religiöse Erscheinungen’ wahrgenommen, wie sind Ihre Ansichten hierzu?

Ich würde sagen, eher das Gegenteil ist der Fall. Die besprochenen Konfliktlösungsmechanismen oder parallelen Justizsysteme, wie sie gerne genannt werden, basieren auf jahrtausendealten Traditionen und Regeln, die in Deutschland wiederbelebt wurden. Viele Familienclanführer haben in Interviews zugegeben, dass sie die Scharia bewusst ablehnen, sobald sich diese im Konflikt mit ihren Stammesgewohnheiten befindet. Sofern Imame zur Konfliktbeilegung überhaupt zu Rate gezogen werden, müssen sie stets darauf bedacht sein, das Gewohnheitsrecht der Familienclans einzuhalten und an erste Stelle zu setzen. Das Letztentscheidungsrecht in Konflikten obliegt ohnehin den Familienclanführern. In manchen Fällen kommt es gar zur Gewaltanwendung gegenüber Imamen. In einem meiner Interviews ließ das Mitglied einer bedeutenden kurdischen Familie in Berlin beispielsweise seinem Ärger über einen Iman, der einer Frau die Scheidung ohne vorherige Absprache mit deren Ehemann und Familienclan gewährte, freien Lauf. Er drohte dem Imam offen mit der Schließung der Moschee und mit Gewaltanwendung.

Denken Sie, dass die Ankunft von Hunderttausenden von Flüchtlingen zur Entstehung weiterer Parallelgesellschaften führen wird?

Sofern der deutsche Staat nicht bald an einer tragfähigen Integrationspolitik arbeitet, werden sich Parallelgesellschaften in den kommenden Jahren in Bezug auf die hohe Anzahl von Asylbewerbern deutlich vermehren und verstärken. Es ist gut möglich, dass viele der noch zurückgebliebenen Familienclanmitgliedern die gegenwärtige Flüchtlingswelle nutzen, um nach Deutschland zu kommen und sich in den Bezirken ihrer Clans niederzulassen. Des Weiteren ist es nicht auszuschließen, dass die besagten Familienclans und ihre kriminellen Netzwerke die Schwäche der neu angekommenen Flüchtlinge nutzen und unter ihnen rekrutieren. Vor allem Flüchtlinge mit geringen sozialen und wirtschaftlichen Perspektiven werden hierfür anfällig sein. Zu guter Letzt werden neu angekommene Flüchtlinge bei der Wohnungssuche aufgrund ihres begrenzten Mietbudgets wahrscheinlich überwiegend in Wohngegenden und Stadtbezirke fündig werden, in denen schon heute Familienclans ihr Unwesen treiben. In diesem Sinne werden neu angekommene Flüchtlinge das bestehende System weiter füttern und ausbauen. Stadtbezirke, die heute vielleicht noch multikulturell sind, könnten morgen schon neue ethnische Enklaven darstellen. Geschäftsbetreiber in solchen Nachbarschaften müssen ähnlich wie bei der Mafia beispielsweise oft Schutzgelder an Familienclans bezahlen.

Ausblick

Abschließend lässt sich feststellen, dass schnelle Zugänge zum Arbeitsmarkt und zur Bildung unabdingbar sind für die erfolgreiche Integration von Flüchtlingen und auch um langfristig Parallelgesellschaften entgegen zu wirken oder deren Einfluss Schritt für Schritt zu reduzieren. Solange sich muslimische Einwanderer marginalisiert und ohne Perspektive fühlen, ist die Gefahr der Bildung weiterer Parallelgesellschaften enorm. Dabei muss verstanden werden, dass sich Parallelgesellschaften und parallele Rechtssysteme gegenseitig bedingen und sich das eine Phänomen ohne das andere nicht bekämpfen lässt. Zu guter Letzt wären Spezialtrainings für die Polizei in Bezug auf Familienclans und ihre kriminellen Netzwerke für die Bekämpfung von Paralleljustiz absolut unabdingbar.

Text und Interview von Roswitha Kern

Über den Autor
Roswitha Kern
Roswitha Kern
Roswitha Kern lebte und arbeitete bis 2014 acht Jahre vorwiegend im Nahen Osten und Nordafrika. Sie war die meiste Zeit journalistisch tätig, arbeitete aber auch als Security und Political Risk Consultant. Darüber hinaus ist sie auch in West-/Ostafrika gut vernetzt sowie in Teilen Asiens. Zurück in Deutschland ist sie weiter journalistisch tätig, arbeitet aber auch als Beraterin für verschiedene Unternehmen.
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