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 Kiew 1994

Als die Autos gen Osten verschwanden

Eine Rückschau nach zwanzig Jahren

Von Peter Sehr

Anfang der neunziger Jahre fiel der eiserne Vorhang. Neben den vielen positiven Auswirkungen der damaligen Veränderungen gab es auch spürbar schlechte Entwicklungen: Eine Menge hochwertiger Kraftfahrzeuge verschwanden erst nach Polen, kurze Zeit darauf auch ins Baltikum, Südosteuropa, Russland und in die Ukraine. Die Ukraine war plötzlich ein eigener souveräner Staat. Trotzdem war die russische Dominanz immer noch vorhanden, da beispielsweise alle Telefonate ins Ausland zentral über Moskau geschaltet werden mussten. Das deutsche Bundeskriminalamt (BKA) versuchte möglichst frühzeitig unter diesen widrigen Umständen eine Zusammenarbeit aufzubauen. Mit welchen, teilweise ungewöhnlichen Mitteln dies damals geschah, und wie sich die Zusammenarbeit gestaltete, zeigt diese rückschauende Betrachtung auf.

 


Damalige Ausgangslage

Das BKA war seit jeher die Zentralstelle schlechthin im internationalen Raum, wurden doch vornehmlich hochwertige Kraftfahrzeuge, überwiegend der Marken Mercedes, Porsche, BMW, Audi und VW, entwendet. Dies bedingte zum einen, dass nahezu alle Interpol-Dienststellen des Auslandes sich an das BKA wandten, um beispielsweise nähere Auskünfte über Fahrzeuge zu erhalten. Zum anderen ergab sich dadurch ein recht guter Überblick über nationale und internationale Tatorte. Das BKA bekam somit auch sehr schnell Kenntnisse über zentrale Brennpunkte des Geschehens und konnte entsprechend die Kontakte zu den betroffenen internationalen Polizeien knüpfen. Insbesondere mit den polnischen Polizeien der Wojewodschaften (Bezirke) und der Zentralstelle, der Hauptkommandantur in Warschau, bauten sich sehr schnell intensive Zusammenarbeitskontakte auf. Fragte man damals aber nach eigenen Kontakten zur russischen Polizei oder der Polizei in der Ukraine, sah man nur  Schulterzucken. Eine Zusammenarbeit habe man früher kaum nötig gehabt, folglich gibt es auch keine Kontakte, so die Verantwortlichen. Es gab zwischenzeitlich Interpol Kiew, doch von dort kam es zu keinerlei Kontaktversuchen.

 

Erstkontakt

Der Erstkontakt kam durch einen Anruf zustande. Es meldete sich ein Mann, der gut deutsch sprach und sich als Mitarbeiter des in Kiew für die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität zuständigen Generals der Polizei, gleichzeitig einer der stellvertretenden Innenminister, vorstellte. Er teilte mit, dass er über ein Satellitentelefon verfüge, das nicht wie das reguläre Telefon über die Zentrale Moskau mit dem Ausland verbunden wird (und wo die russischen „Kollegen“ fleißig mithören würden), und bat um einen Besuch in Kiew, da dort das Problem mit der Einfuhr entwendeter Kraftfahrzeuge überhandnähme. In Kiew hätte sich eine Automafia breit gemacht, die aus Deutschland mehr und mehr Fahrzeuge, hauptsächlich der Marken Mercedes, Audi, BMW, VW und Porsche illegal einführen und verkaufen würden. In der Ukraine gäbe es eine Klientel von Neureichen, die einen ungesättigten Bedarf an hochwertigen Fahrzeugen hätten. Reiche Ukrainer würden gerne zeigen, dass sie reich seien, und Autos wären genau dafür da gezeigt zu werden und um zu belegen, wie reich ein Ukrainer sei. Das bedeute, sie bräuchten nicht nur ein Auto, sondern am besten mehrere.

Diese würden neben der teuren legalen Beschaffung auch illegal durch mittlerweile hoch organisierte Banden vorwiegend aus Deutschland, aber auch vermehrt aus Polen und Österreich, „besorgt“ werden. Die Hintermänner seien ehemalige Boxer und andere zwielichtige Gestalten, die nunmehr in Kiew die „Puppen tanzen“ ließen. Sie führen auch teuerste Autos, umgäben sich mit schönsten Frauen und könnten es sich leisten einen ganzen Straßenzug für den Durchgangsverkehr durch ihre Bodygards zu sperren, damit sie in einer der ganz wenigen westlich aufgemachten Kneipen in Ruhe feiern könnten. Es sei nun eine kleine Einheit aufgestellt worden, die diesen Gangstern das Handwerk legen solle, und nunmehr bräuchten sie die Unterstützung des BKA.


Beginn der Zusammenarbeit

Es erfolgte daraufhin tatsächlich eine förmliche Einladung, allerdings nicht über Interpol Kiew, sondern von dem besagten General persönlich. In Kiew wurden die BKA-Beamten am Flughafen abgeholt. Der Verbindungsmann zur ukrainischen Polizei war anwesend und dolmetschte während des Aufenthaltes ins Ukrainische. Dieser Erstkontakt war von einem ernstzunehmenden Vorfall überschattet. Der Verbindungsmann berichtete, warum der General nicht persönlich zum Flughafen gekommen sei. Einige Tage zuvor sei der Dienstwolga in Kiew von Gangstern erkannt und verfolgt worden. Ukrainische Kriminelle seien hinter dem Wolga her gewesen und hätten mit Maschinenpistolen aus dem fahrenden Fahrzeug auf den Wagen geschossen. Im Wagen habe allerdings nicht der General gesessen, sondern sein Fahrer, ein Polizist im Range eines Hauptmanns. Dieser wäre zwar nicht getroffen worden, aber doch mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Hauswand geprallt. Er sei sofort tot gewesen und habe Frau und zwei kleine Kinder hinterlassen. Trotzdem kamen noch ergiebige Absprachen zustande, und in der Folgezeit wurden über besagtes Satellitentelefon einige hilfreiche Informationen aufgebaut. Zudem gelang es der OK-Abteilung einen direkten Zugang mit Fernschreiber in den Westen zu schaffen.


Spezielle Probleme „vor Ort“

Die Ukraine hatte zu Beginn ihrer Existenz als souveräner Staat keine richtige konvertierbare Währung. Man half sich mit so genannten „Coupons“, die aussahen wie Geld des Spiels „Monopoly“. Die eigentliche Währung in der Ukraine war zu dieser Zeit der Dollar. Es zeichnete sich damals bereits ab, dass ein Großteil der Bevölkerung verarmte und nur eine kleine Schicht wohlhabend wurde. Tatsächlich war damals entscheidend, wer z.B. Zugang zu Ressourcen hatte und in der Lage war diese gewinnbringend zu veräußern. Dies schaffte Dollarkapital und natürlich auch die Lust am Besitz westlicher Güter, insbesondere Luxusautos. Das BKA begann nun mit dem Austausch von Informationen, insbesondere wurde auch der Kontakt zur Deutschen Versicherungswirtschaft hergestellt, die über ihren Verband die Rückführung der sichergestellten Fahrzeuge organisierte. Und sichergestellt war damals schon eine Vielzahl von Fahrzeugen. Alles in allem lief die Zusammenarbeit recht gut an, aber ein weiterer Vorfall, der sich in Kiew abspielte, zeigte auch, wie völlig unterschiedlich diese Welt von der westlichen Kfz-Fahndungs-Teamwar: Ein Polizist wurde nachhaltig „gebeten“ seine Ermittlungen, die in eine bestimmte Richtung gegen einflussreiche Leute führten, einzustellen. Dies tat er nicht, und so wurde er im Hausflur des Hochhauses, in dem er mit seiner Frau wohnte, erschossen. Der Mörder bekam für das Attentat Coupons im Wert von 2 Dollar. Auch Schießereien mit Kriminellen waren nicht selten. So berichtete das Fahrzeugfahndungsteam, bei dem Versuch verdächtige Fahrzeuge zu kontrollieren, habe es plötzlich eine Schießerei gegeben.  Eine Zeit lang seien die Kugeln geflogen. Dann hätte man „verhandelt“. Freier Abzug der vier Kriminellen mit einem Auto, die anderen drei Fahrzeuge seien dann für die Polizei.


Weitere Zusammenarbeit und weitere Problematiken

In die nunmehr mehr und mehr anlaufende Zusammenarbeit waren übrigens die Landeskriminalämter von Berlin und Hamburg wie auch das Polizeipräsidium München mehr und mehr involviert. Das PP München hatte in Bayern eine Sonderrolle, was Kfz.-Verschiebungsbekämpfung anging. Bei einem Routineschriftverkehr mit Interpol Kiew sorgte plötzlich die Auskunft, dass der besagte Verbindungsmann der ukrainischen Polizei nicht bekannt sei und folglich nicht in Staatsdiensten stehe, für helle Aufregung. Bei allen offiziellen Kontakten bis dahin wurde von ihm gedolmetscht, und es gab ein tiefes Vertrauensverhältnis zwischen ihm und der Polizeiführung, mit der das BKA zusammenarbeitete. Es wurde mehr und mehr deutlich, dass sich in der ukrainischen Führung ein Machtkampf entwickelte, wobei die Polizei da ebenso betroffen war wie die anderen Bereiche der Verwaltung. Dies ging offenbar einher mit der Beendigung der Amtstätigkeit von Leonid Krawtschuk, dem damaligen Ministerpräsidenten der Ukraine. Das Kräftemessen fand zwischen den Reformern und den moskautreuen Kadern statt. Dass dies bis in die heutigen Tage noch hineinwirkt, lässt sich gut an den derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Zuständen in der Ukraine erkennen. Der Verbindungsmann war dann auch einige Zeit von der Bildfläche verschwunden, bis Vertreter der Deutschen Botschaft ihn in einem Gefängnis ausmachten und aus der Haft holten (der Verbindungsmann war deutscher Staatsbürger mit polnischen Wurzeln). Diese unübersichtliche Situation veranlasste schließlich die Führung des BKA, die offensiven Kontakte zur Ukraine einzustellen, bis sich die Lage beruhigt habe. Die Zusammenarbeit beschränkte sich daraufhin auf den schriftlichen Austausch von Informationen.

Fotos: Peter Sehr

(Anmerkung: Der Autor war von 1991 bis 1995 Leiter des Referates „Kraftfahrzeugdelikte“ in der Abteilung „Ermittlung, Auswertung (EA)“ des BKA)

 

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