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 In den Klöstern stapelten sich die wertvollen Bände – wie hier in der Stiftsbibliothek des Klosters St. Gallen

Das Buch – Totgesagte leben länger

Von Niels Stokholm

Vor fünftausend Jahren begann die Vorgeschichte des Buches. Seither wurden das Buch und seine Vorgänger zu einem wichtigen Kulturgut der Menschheit, Milliarden Exemplare wechselten im Laufe der Zeit den Besitzer. Viele wurden ganz, noch mehr nur teilweise und ebenso viele gar nicht gelesen. Wissen, Ideologien, Lebensweisheiten, Amüsantes, Verachtendes, Spannendes, Schönes – alles wurde den Lesern angeboten. Derzeit steht das Buch aber an einem Scheidepunkt: Verdrängt die Digitalisierung das Papierbuch oder überlebt es auch diese Herausforderung?
Da die Redaktion von VeKo-online vor kurzer Zeit von Printmedien zu digitalen Medien wechselte – wie mancher Leser auch – haben wir uns entschlossen, den nachfolgenden Beitrag zu veröffentlichen.

 

Das gedruckte Buch überdauert auch die Digitalisierung, so viel sei schon zu Beginn verraten. Die Frage ist nur, welche Bücher und in welcher Form, denn die Existenz des Buches in herkömmlicher Aufmachung wird in der heutigen digitalisierten Welt auf eine harte Probe gestellt. Es ist ein Leichtes, die Inhalte aller Bücher zu digitalisieren und der gesamten Welt im World Wide Web gratis oder gegen Gebühr zur Verfügung zu stellen. Aber wünscht sich die Leserschaft dies überhaupt? Oder anders hinterfragt: Rentiert es wirtschaftlich, alles zu digitalisieren, finden die Anbieter genügend zahlende Nutzer oder lässt es sich wirklich nur mit Pop-up-Werbung finanzieren? Um all diese Fragen zu beantworten, werfen wir zunächst einen kleinen Blick in die Entstehungsgeschichte des Buches.

 

Was ist ein Buch?

Die Werke Shakespeares, wie sie zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurden, können heute im Internet Seite für Seite betrachtet werden.Wäre das Buch eine Erfindung der heutigen Generation, würde man es wohl als simples Speichermedium mit relativ wenig Datenkapazität bezeichnen. Wissenschaftlich gesehen ist das Buch nichts anderes als eine mit einer Bindung und meistens auch mit einem Umschlag versehene Sammlung von bedruckten, beschriebenen, bemalten oder auch leeren Blättern aus Papier oder ähnlichen Materialien. Die Haltbarkeit eines Buches variiert, je nach Sorgfalt der Aufbewahrung, zwischen wenigen Tagen bis zu Jahrhunderten. Die Weltkulturhüterin Unesco hat das Buch als nichtperiodische Publikation mit einem Umfang von 49 Seiten oder mehr definiert und den 23. April als Welttag des Buches festgelegt. Ein Buch kann ein einzelnes Werk beinhalten oder gleich mehrere Bücher, insbesondere wenn sie Teil eines Bandes sind. Letztere sind beispielsweise Büchersammlungen wie die Bibel oder andere antike Geschichtswerke sowie Werkschauen eines oder mehrerer Autoren.

 

Wissen für die Massen

Revolutionär: Johannes Gutenberg, Erfinder des Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern und der Druckerpresse, betrachtet eine gedruckte Seite an seiner ersten Druckerpresse.Die Papyrusrollen der Ägypter, Griechen und Römer sind die ältesten Vorläufer des Buches, von denen die ältesten bekannten Exemplare aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. aus Ägypten stammen. Ab dem 1. Jahrhundert löste der sogenannte Kodex die Papyrusrollen ab. Dabei handelte es sich um mehrere Lagen Pergament, die in der Mitte gefaltet und mit einem Faden aneinander befestigt wurden. Dies ermöglichte eine beidseitig fortlaufende Beschriftung. Später erhielten diese unmittelbaren Vorläufer des Buches, wie wir es heute kennen, einen festen Umschlag. Das beim Kodex verwendete Pergament erhielt ab dem 14. Jahrhundert Konkurrenz vom billigeren und einfach zu produzierenden Papier. In Deutschland entstanden die ersten Papiermühlen, und es war auch ein Deutscher, der Mitte des 15. Jahrhunderts den Buchdruck erfand. Dank dieser Entdeckung Johannes Gutenbergs konnten Schriftwerke auf schnelle, einfache Art und Weise vervielfältigt werden, was in Europa zu einer raschen Verbreitung der neuen Technik führte.

Die ständige Verbesserung und Weiterentwicklung des Buchdrucks und der Papierherstellung machten das Buch bald zu einer Massenware. Ideologen, Idealisten, Machthaber und solche, die es gerne werden wollten, entdeckten schnell den Nutzen dieser neuen Streuungsmöglichkeit. Die Reformation profitierte ebenso davon wie die Aufklärung und nicht zuletzt die breite Wissensvermittlung war nun ein Einfaches. Sachbücher, Belletristik, Romane, Krimis, Kinder- und Bilderbücher und viele weitere Buchformen gesellten sich dazu und füllen heute die Bücherregale weltweit, sei es in eigens dafür eingerichteten Bibliotheken oder als dekoratives Element in der Wohnstube.

 

Die ständige Bedrohung

Kunstwerke: Bevor die Industrialisierung die Buchproduktion vervielfältigte, wurden die Bücher einzeln, in Handarbeit, hergestellt.Die Existenz des Buchs, damit ist das gute alte Papierbuch gemeint, ist schon oft infrage gestellt worden. Es gab Zeiten, da war die Verbreitung der Buchinhalte den Obrigkeiten ein Dorn im Auge, weshalb sie die unliebsamen Bücher zu vernichten versuchten. Dies bedeutete jedoch nicht das Ende des Buchs, denn die Obrigkeiten wünschten natürlich, dass ihnen genehme Bücher weiterhin gelesen wurden. Im Mittelalter war zudem nur ein kleiner Bevölkerungsanteil des Lesens mächtig. Um die breite, arbeitende Bevölkerung nicht auf aufständische Ideen kommen zu lassen, war es den Regierenden nur recht, wenn lediglich eine ausgewählte Gruppe überhaupt das Alphabet kannte.

Im Mittelalter wurde insbesondere in den Klöstern gelesen und die Bücher – meist Einzelausgaben – befanden sich in den geschlossenen Bibliotheken der Mönche. Aus Angst vor Diebstahl und aus Furcht vor zu viel Bildung für die unwissende Bevölkerung waren diese Bücher nur Wenigen zugänglich. Die Bücher waren deshalb zu dieser Zeit der ständigen Bedrohung einer Vernichtung ausgesetzt. Ein Brand beispielsweise liess sie für immer verschwinden, insbesondere die Einzelausgaben.

Mit dem Buchdruck, der Erfindung des maschinellen Drucks und der somit möglichen Vervielfältigung, war die Gefahr der ewigen Zerstörung gebannt. Mit der Aufklärung, der Industrialisierung und dem enormen gesellschaftlichen Wandel der letzten Jahrhunderte wurde das Buch zu einer Massenware, das Wissen in beinahe alle Ecken der Welt transportierte und – je nach politischem System – allen zugänglich machte. Diese Verbreitung ging einher mit einer Kommerzialisierung der Bücherwelt. Die Autoren wollten vom Schreiben leben können, die Verlage mit dem Buchdruck wirtschaftlichen Gewinn erzielen und die Buchhändler pochten auch auf ihren Teil vom Kuchen. Dank der Kommerzialisierung erlebte das Buch eine grosse Verbreitung, gleichzeitig erlitten viele Schiffbruch: Autoren suchten vergebens nach Verlagshäusern, die ihre schriftlichen Ergüsse druckten, kleine Verlage mussten dem Druck der grossen weichen und auch die Buchhandlungen mussten stets ums Überleben kämpfen. Der ständige kommerzielle Druck wurde zur neuen grossen Gefahr für das Buch und hat das Papierbuch dahin geführt, wo es heute steht: Am Scheideweg zur Zukunft.

 

Die Zukunft hat längst begonnen.

Die Erfindung des Internets hat die Lesegewohnheiten massiv verändert. Viele Tageszeitungen haben diesen Trend bereits zu spüren bekommen. Es ist zwar keine Tendenz ersichtlich, die zeigen würde, dass weniger gelesen wird. Es wird aber anderes und vor allem anders gelesen. Schon länger ist klar, dass beispielsweise Lehrbücher und Nachschlagewerke ihr Ziel auf elektronischem Weg besser erreichen. Ein Vorteil hierbei ist, dass Lehrmaterialien und Wissensartikel schneller und ständig aktualisiert werden können. Ein gutes Beispiel dafür ist der Erfolg der Lexikon-Homepage «Wikipedia»: Das Online-Lexikon beherbergt so viele Artikel wie kein anderes Nachschlagewerk und ist zudem kostenlos. Nicht verwunderlich, verschwinden die Lexikon-Verlage allmählich oder kämpfen ums Überleben.

Die Gefahr für den Fortbestand des Buchs nach «altem» Verständnis liegt vordergründig in den neuen Technologien. Aber diese alleine sind nicht wirklich die möglichen Totengräber des Buchs. Die Schuld am Untergang des Buchs dem Internet in die Schuhe zu schieben, wäre einfach zu simpel. Wie so oft kann man in dieser Hinsicht nämlich auch den Spiess umdrehen und sagen, dass das Internet eben genau die Rettung des Buchs sein könnte. Und deshalb ist es auch interessant, wenn man diejenigen, welche den Tod des Buchs heraufbeschwören, einmal genau betrachtet: Oft sind es Verlagshäuser oder Zeitungskolumnisten. Klar, arbeiten sie doch beide in Bereichen, die unter der Konkurrenz mit dem Internet besonders leiden. Eine etwas differenziertere Betrachtungsweise würde jedoch die Chancen und Möglichkeiten, welche das Internet oder elektronische Bücher, sogenannte E-Books, mit sich bringen, offenbaren.

 

Das augenblickliche Vakuum

Es ist falsch zu sagen, das Geschäft mit dem Buch befinde sich in einer Krise. Diejenigen, die das behaupten, wissen schlicht und einfach nicht, wie es mit dem Geschäft weitergehen soll. Das Geschäft selber läuft nämlich eigentlich gut, nur für die einen nicht so gut wie für andere: Wie so oft hängt das Ganze von der Sichtweise und vom Geschäftsmodell ab, auf das man setzt. Der Schlüssel zum Fortbestand des Papierbuchs ist genau in den angeblich so gefährlichen, neuen Technologien zu finden: Sie betreffen alle, die mit Büchern zu tun haben, ob sie schreiben, verlegen oder produzieren. Oder ob sie Bücher verleihen, verkaufen oder lesen. Am ärgsten sind derzeit die stationären Buchhandlungen betroffen. Sie merken und wissen, dass ihnen der Buchverkauf über das Internet die Lebensgrundlage entziehen wird. Aber eben, die Bücher werden weiterhin gekauft, einfach über andere Verkaufskanäle.

Die Verlagslandschaft hat den richtigen Umgang mit den neuen ökonomischen und vor allem rechtlichen Herausforderungen, welche die Literatur zum Herunterladen mit sich bringen, auch noch nicht gefunden. Das bewährte System des traditionellen Buchmarkts, das auf Tantiemen und Urheberrechtsschutz basiert, muss neu überdacht werden. Vonnöten wäre eine weltweit gültige rechtliche Lösung, die mit neuen Phänomenen wie der digitalen Selbstveröffentlichung oder der Vorherrschaft des weltweit grössten Onlineversandportals Amazon umzugehen weiss. Doch wie schon in der Musikindustrie, hinkt auch hier die Justiz dem technologischen Fortschritt hinterher – eine Lösung zu finden ist ehrlich gesagt auch schwierig, hält das Internet doch immer irgendwo eine Tür offen, um rechtliche Bestimmungen zu umgehen.

 

Der Leser von morgen

Schon bei den Kindern wird durch das Vorlesen die Freude am Lesen geweckt.Letztendlich bestimmt stets der Kunde, wo es lang geht. Erfolglose Projekte werden in der Geschäftswelt sofort fallen gelassen, erfolgreiche dafür gepusht und weiterentwickelt. Dieses kapitalistische Grundprinzip macht auch vor der Buchwelt nicht Halt. Inwiefern also ist der Kunde des Buchs, der Leser, von dem derzeitigen Wandel in der Branche betroffen? Gelesen wird weiterhin, das ist unbestritten. Vielleicht weniger Papierbücher, dafür mehr E-Books. Erfahrungsberichte zum Leseerlebnis mit den elektronischen Büchern zeigen jedoch das Aufkommen eines neuen Leseverhaltens. Lange Texte zu lesen ist mit dem E-Book nicht einfach, wird oft bemängelt, weshalb es etwas schwierig ist, sich in ein literarisches Werk zu vertiefen. Lange Texte? Diese sind sowieso passé, möchte man einigen «Experten» auf diesem Gebiet glauben. Angeblich verändert der Konsum von Inhalten des World Wide Web die Wahrnehmungsfähigkeiten der Menschen. Einfache Texte werden mit Hyperlinks zu Bildern, Tönen und anderen Texten angereichert. Gerade die junge Generation, die von klein auf mit den neuen Technologien in Kontakt gekommen ist, pflegt einen neuen Umgang mit den zahlreichen Unterhaltungsmedien. Dieser Umgang ist nicht mehr der strengen Linie eines Buches, das mit der ersten Seite anfängt und mit dem «Ende» aufhört, verbunden. Heutige Texte müssen kurz, prägnant, reisserisch, visuell reich, oft mit Werbung angereichert und ebenso oft mit anderen Inhalten gepaart sein. Dies sei nötig, propagieren beispielsweise die Macher von Onlinezeitungen, weil es den heutigen Lesern immer schwerer falle, sich auf längere, abgeschlossene Texte zu konzentrieren (Sie, liebe Leserin, lieber Leser, gehören sicherlich nicht dazu, ansonsten hätten Sie das Weiterlesen dieses Artikels bereits viel früher abgebrochen).

 

Kein Ende, sondern Veränderung

Papier oder E-Reader? Die Zukunft des Buchs in traditioneller Definitionsweise ist ungewiss. Experten prophezeien seinen Fortbestand, trotz E-Book.Das Buch wird es auch morgen noch geben. Vielleicht ein paar weniger, in einigen Bereichen tatsächlich keine mehr. Aber Bücher, die Geschichten erzählen, sei es «Harry Potter» von Joanne K. Rowling oder «Archipel Gulag» von Alexander Issajewitsch Solschenizyn, die wird es weiterhin geben und die Verlage werden auch weiterhin eine Leserschaft für diese Bücher finden, die bereit ist, dafür zu zahlen. Zu tief ist das Buch in unserer Gesellschaft verankert, zu viele Leser gibt es, die es als Lifestyle und Alltagsgewinn ansehen, in einem Buch zu lesen oder einfach ein paar Bücher in der Wohnstube liegen zu haben, die den Eindruck vermitteln, man würde lesen. Gerade der Roman, der Krimi, der schlüpfrige Romantikschmöker – sie alle haben eine unverändert breite Fangemeinde, die auch in Zukunft nach neuem Futter rufen wird. Das Papierbuch und die Neuen Medien werden sich einen Weg suchen müssen, wie sie nebeneinander existieren können, ohne einander gegenseitig zu bedrohen. Denn der Vormarsch der elektronischen Medien ist unaufhaltsam, aber (wie bei so vielen Neuheiten) wird das Interesse vielleicht allmählich etwas abflauen.

 

Alte Werte, neue Wege

Vor der Erfindung des Buchdrucks waren Bücher Einzelkunstwerke. Man wird die Strenge eines Buchs wieder lieb haben, denn das Buch lügt nicht. Was drin steht, ist unveränderbar, es lässt sich nicht von Hackern missbrauchen und verändern. Jede Botschaft in einem Buch ist an einen physischen Ort gebunden, nichts verliert sich im virtuellen Raum. Ein Buch regt die eigene Fantasie an, schafft eigene Bilder im Kopf und diktiert diese nicht mit allmöglichen virtuellen Einschüben. Der amerikanische Astronom, Publizist, Lehrer und Kuriositätenhändler Clifford Stoll schrieb bereits 1999 in seinem Buch «LogOut, Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben und andere Hightech-Ketzereien», dass die Liebe zum Buch, das Bedürfnis zu lesen, nicht entstehen könne wenn man auf einen Bildschirm starren müsse. «Es wird eine Generation gut funktionierender Legastheniker kommen, für die ein Buch nichts anderes ist als Druckerschwärze auf eingetrocknetem Holzbrei», so Stoll weiter. Die Verantwortung der Schulen in diesem Bereich ist nicht von der Hand zu weisen, und in den 15 Jahren seit Stolls vernichtender Kritik hat sich sicherlich einiges getan. Das Papierbuch und der Computer haben den Weg des Nebeneinanders auf jeden Fall in einigen Schweizer Schulstuben durchaus erfolgreich gefunden. So werden die Kinder zum Lesen animiert, indem sie zunächst Geschichten in Papierbüchern lesen und danach Fragen zum Gelesenen – quasi als Lernkontrolle – im Internet beantworten. Ein Punktesystem regt die Neuleser dazu an, noch mehr zu lesen (www.antolin.de). Sobald sich Autoren und Vertreiber von Büchern über die Kostenabwicklung des Grossgeschäfts einig geworden sind, klare rechtliche Schranken einen Missbrauch minimieren und die Leserschaft die Liebe am Lesen von Papierbüchern weiterhin unter Beweis stellen kann, steht der Zukunft des Buchs nichts im Wege.

Dieser Artikel beruft sich nicht auf Vollständigkeit und kann auch nicht abschliessend eine Analyse zum Fortbestand des Buches präsentieren, denn dazu wäre mehr Platz nötig – der Autor müsste also quasi ein Buch darüber schreiben. Aber dies scheint nicht mehr zeitgemäss ...

Fotos: Verfasser

 

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