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Pädokriminalität weltweit

Sexueller Kindesmissbrauch, Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie

Von Prof. Dipl.-Psych Adolf Gallwitz

 

Bereits 1998 schrieb unser Autor Adolf Gallwitz zusammen mit Manfred Paulus das Buch „Die Kindersexmafia in Deutschland“, das nationales und internationales Aufsehen erregte und heftige Diskussionen auslöste. Seit Jahren engagiert sich Gallwitz mit Beiträgen in Zeitschriften, TV und Rundfunk oder Vortragsreihen, um dem Tabuthema „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“ mehr Beachtung und Geltung zu verschaffen.

Sein Engagement macht deutlich, dass sexuell motivierte Gewaltdelikte, begangen an Kindern in unserem Land – entgegen anders lautender und den Deliktsbereich verharmlosender Verlautbarungen – immer noch alltäglich sind. Er ist überzeugt, dass sich die diesbezüglichen Gefahren für die Kinder ganz erheblich verringern lassen. – Red. -

 

Täter, Motive und Vorgehensweisen

Was für Menschen greifen Kinder in sexueller Absicht an? Unser erster Gedanke sind Männer, das Wort „Sexualstraftäterin“ kommt uns nur schwer über die Lippen. Aber es gibt sie, Täterinnen, Mittäterinnen und Gehilfinnen, wie das Spiegelbild dieses Geschehens, die Kinderpornografie zeigt. Und was sind diese, meist Männer, für Menschen?

Der finster Dreinblickende vom polizeilichen Fahndungsfoto, schwitzend mit Pickeln, der Fremde, dunkel gekleidet, der aus dem Gebüsch hervorspringt und das Kind plötzlich ins Auto zerrt, das mordende Monster zielt mehr auf verbreitete Klischeevorstellungen als auf die Wirklichkeit ab und führt eher zu falschen Verdächtigungen als zu potenziellen Tätern. Hinter dem sozialen Nahfeld des Kindes verbergen sich die Gefahren, denn Täter sind neben den seltenen Fremden vor allem Stiefväter, Großväter, leibliche Väter, Nachbarn, Bekannte oder Freunde der Familie, Onkel, Brüder, Freunde der Brüder, Lehrer, Erzieher, Betreuer oder Trainer. Sie kommen nicht selten aus einem Umfeld, wo sie großes Vertrauen genießen und als unverdächtig gelten. Potenzielle Täter kommen aus allen Altersstufen, vom Kind bis zum Greis, aus allen Gesellschaftsschichten. Den Meisten ist gemeinsam, dass sie es verstehen, gut auf kindliche Bedürfnisse, Denkweisen und Erwartungshaltungen einzugehen. Sie erkennen erstaunlich schnell Defizite und Mangel beim späteren Opfer und nützen dies für sich aus. Aus der kriminalistischen Arbeit, aus polizeilichen Beschuldigten-, Opfer- und Zeugenvernehmungen, aber auch aus psychotherapeutischen Gesprächen und gutachterlichen Untersuchungen lassen sich Typen und Täterprofile erstellen, die für eine wirksame Prävention ebenso von Bedeutung sind, wie für eine erfolgreiche Ermittlungstätigkeit und Strafverfolgung.

 

 

Den Täter gibt es nicht; in vereinfachender Form können mehrere unterschiedliche Tätertypen mit jeweils unterschiedlicher Motivation und unterschiedlichenVerhaltens- und Vorgehensweisen unterschieden werden.

Der auf Kinder fixierte Täterund seine Untertypen, der Verführer, der introvertierte Täter, sowie der sadistische Täter, erfährt schon in jungen Jahren, oft schon vor seiner eigenen Pubertät, dass er anders ist, dass er sich von Kindern, Mädchen, meist aber Jungen, angezogen fühlt. Später entwickelt er eine Präferenz für ganz bestimmt Altersgruppen. Schon in jungen Jahren macht der auf Kinder fixierte Täter auch die bedeutsame Erfahrung, dass seine Präferenz vom Umfeld nicht akzeptiert, sondern tabuisiert, verachtet und verurteilt wird und strafbedroht ist. Beide Erfahrungen prägen sein späteres Leben. So sucht er die Nähe von Kindern beruflich, nebenberuflich oder in der Freizeit. Gesellschaftliche Achtung und Anerkennung bieten ihm dabei den notwendigen Schutz. Es gibt zwar auch bekennende Pädosexuelle, die Allermeisten allerdings versuchen, ihre Neigung und ihr Tun geschickt und erfolgreich zu verbergen und zu tarnen. Dies bedeutet, dass wir es mit einem großen Dunkelfeld zu tun haben.

Situationsmotiviert handelnde Täter wiederum sind in ihrer sexuellen Ausrichtung nicht ausschließlich auf Kinder fixiert, allein Gelegenheit und Verfügbarkeit sind entscheidende Kriterien für ihre Übergriffe. Bei einer genaueren Betrachtung ihrer Motive wird in dieser Kategorie häufig noch verfeinert unterschieden in den sexuell ausweichenden Täter, den sittlich wahllosen Ausbeutungstäter, den sexuell wahllosen Erlebnistäter und den gesellschaftlich gescheiterten Außenseiter. Gefühle der Unzulänglichkeit, ein marodes Selbstbild, eine brüchige Identität, Streit und familiäre Zerrüttung können dazu führen, eigenen Kindern gegenüber übergriffig zu werden. Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum, Schicksalsschläge, Arbeitsplatzverlust, familiäre Trennung oder andere schwerwiegende Belastungen, können eine derartige Entwicklung verstärken. Erlebnistäter wiederum sind hemmungslos promiskuitiv und sammeln in der Sexualität Trophäen. Urlaub ist bei ihnen meist eine Art „Sexsafari“, jede Gelegenheit für eine Bereicherung der sexuellen Erfahrungen wird wahrgenommen.

 

Über tatbegünstigende und tatverhindernde Verhaltensweisen.

Gibt es den Opfertypus?

Blonde, hübsche, ins Auge fallende Mädchen sind grundsätzlich nicht mehr, aber auch nicht weniger gefährdet. Erst wenn Eltern im naiven Glauben an eine Model- oder Filmkarriere ihr hübsches Kind in die Hände fragwürdiger Casting-Agenturen, Filmateliers, Fotografen oder Modelagenturen geben und es Fremden zu Film- und Fotoproduktionen anvertrauen, dürfen sie sich nicht wundern, wenn es in Gefahr gerät und zur Herstellung kinderpornografischer Produkte missbraucht wird.

Auch Kleinkinder werden vermutlich nicht weniger häufig Opfer von Sextätern als Ältere. Allein das Entdeckungsrisiko steigt mit dem Alter des Opfers. Andererseits zeigen die kriminalistischen Erfahrungen auch, dass es Kinder gibt, die in besonderem Maße gefährdet sind, Opfer von sexuell motivierten Tätern zu werden. Ausschlaggebend ist hier Ausstrahlung, Körpersprache, Erscheinungsbild, Auftreten, Sicherheit, Wehrhaftigkeit und Selbstvertrauen. Hier zeigt sich eine interessante Parallele zur Erwachsenenwelt. Nicht nur Fremd- oder Überfalltäter bevorzugen einfache Opfer und suchen nach entsprechenden Signalen, unsicherem, neugierigem, ängstlichem, unterwürfigem und besonders hilfsbereitem Verhalten.

Unwissenheit oder falsche Vorstellungen, Geschichten vom „bösen Mann“ können Angst machen und lähmen. Angst ist im Übrigen auch unbegründet. Der Schulweg ist hinsichtlich des Straßenverkehrs ungleich gefährlicher. Angstorte sind oft auch keine besonderen Gefahrenorte und selten identisch mit Tatorten. Deshalb sollten Kinder in ihrer Selbstsicherheit und Selbstbestimmungsfähigkeit gestärkt werden. Dazu gehört auch, altersabhängig bestimmte Wege alleine oder in der Peergruppe zu bewältigen.

 

Kinder haben Rechte. Sie sollten wissen, dass sie Rechte haben und wie sie diesen Geltung verschaffen können.

Die Menschenrechte gelten uneingeschränkt auch für Kinder, denn Kinder sind bereits Menschen und wollen nicht erst welche werden. Rechte zu haben und davon zu wissen, macht stark, gibt Selbstvertrauen und Selbstsicherheit und führt weg von Opfertypus. Kinder sollten wissen, dass sie gewisse Handgreiflichkeiten, für sie unangenehme Berührungen, Doktorspielchen oder ähnliche Erlebnisse nicht hinnehmen müssen, sondern sich beschweren und dagegen zur Wehr setzen dürfen. Völlig unabhängig davon ist, ob solche Handlungen von Erwachsenen oder von Gleichaltrigen ausgehen. Widerspricht ein Kind selten, hat es gelernt, Erwachsenen bedingungslos zu gehorchen, dann ist es zwar ein einfaches, angenehmes Kind, aber gleichzeitig in manchen Situationen auch besonders gefährdet. Es geht dabei schon lange nicht mehr nur um das „Nein“, sondern um Auswahlmöglichkeit, Entscheidungsfreiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit. Kinder sind dann stark, wenn sie fähig und in der Lage dazu sind, auch einem Erwachsenen gegenüber Widerstand zu signalisieren und zu leisten, wenn dieser etwas verlangt oder tut, was als unangenehm, unrecht oder Eingriff in eigene Rechte empfunden wird. Es geht auch um das ‚Ernstnehmen’ eigener Gefühle, einen Ansprechpartner haben, der erreichbar ist, dem alles erzählt werden kann. Es geht um angstfreie Erziehung, Aufklärung über Rechte, Wissen über Gefahren, immer ausgehend von den eigenen, bereits vorhandenen Stärken.

Doch wer klärt heute über Sexualität auf? Ob ein Kind über die Annäherungsversuche eines Täters oder über eine Tat sprechen kann, ist auch davon abhängig, ob es gewohnt ist, dass überhaupt über sexuelle Inhalte gesprochen wird. Wenn Eltern oder andere Erwachsene im Umfeld eines

Kindes über Sexualität nur tuscheln oder schlecht darüber reden, dann wird das Kind kaum über ein solches Geschehen oder eigene Nöte sprechen. Falsche oder fehlende, den Bedürfnissen angepasste sexuelle Aufklärung kann Kinder zu Opfern machen und Tätern in die Arme treiben. Und Selbstverteidigungslehrgänge ohne altersgerechte und auf den Entwicklungsstand der Kinder angepasste psychologische Elemente können zu einem weiteren Misserfolgserlebnis für schüchterne und körperlich schwache Kinder werden.

 

Kinder – gefangen, fasziniert und gleichzeitig allein gelassen in den modernen Medien

Für Kinder sind Chaträume und soziale Netzwerke kein Spielplatz. Immer wieder versuchen Erwachsene und Von unserem Autor Adolf Gallwitz sind noch die hier abgebildeten Buchtitel im Verlag Deutsche Polizeiliteratur erhältlich.Jugendliche, Sexualkontakte zu ihnen anzubahnen, sie zu beleidigen, zu belästigen oder zu bedrohen. Mit Fragen wie „Bist Du schon aufgeklärt?“, „Hattest Du schon Sex?“ oder „Trägst Du schon einen BH?“ wird die Bereitschaft für derartige Angriffe getestet. Nahezu jeder vierte Schüler ist schon nach sexuellen Erfahrungen gefragt worden. Und seit es Formate wie „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germanys Next Top Model“ gibt, sind nicht wenige Kinder und Jugendliche für den Traum einer Model-Kariere bereit, Risiken einzugehen, gewagte Fotos von sich machen zu lassen und in soziale Netzwerke einzustellen. Gleichzeitig sinken im Internet auch die Hemmungen zum Ausleben von Fantasien. Die Struktur der modernen Medien und die fehlende soziale Kontrolle machen es einfach, mit falschem Profil auf die Jagd zu gehen. Täter nutzen das Medium mit falscher Identität, um Nöte und Bedürftigkeit von Minderjährigen zu erfahren, sich einzuschmeicheln, Verständnis vorzugaukeln, Hilfe anzubieten und letztlich haben sie nur Interesse an Sex mit den Minderjährigen. Und die potenziellen minderjährigen Opfer stellen bereitwillig Intimes, private Daten und Bilder für die ganze Welt sichtbar ein, weil sie Freunde und Anerkennung suchen. Aus Angst, den Umgang mit dem PC ganz verboten zu bekommen, wenden sie sich nur selten mit ihren Erfahrungen an Erwachsene. Eltern wiederum sind mit diesem Medium nicht aufgewachsen; ihnen ist Medienkompetenz völlig fremd, und so sind sie einfach froh, wenn das Kind sich in der Wohnung aufhält. Meist erfahren sie nur etwas von der Opferwerdung ihrer Kinder, wenn es um Mahnungen, Zahlungsaufforderungen oder Bestellungen geht.

Hier helfen nur Regeln im Umgang mit diesem Medium in der Familie. Es beginnt damit, dass der PC in einem Raum stehen sollte, den andere Familienmitglieder regelmäßig mitbenutzen, dass für jüngere Internetnutzer bestimmte Zeiten ausgemacht werden, zu denen chatten und surfen erlaubt ist. Gemeinsam mit den Minderjährigen sollten Eltern über die Erwartungen und Gefahren im Internet, insbesondere in sozialen Netzwerken und Chaträumen sprechen, und es sollten Vereinbarungen getroffen werden, was zu tun ist, wenn Belästigungen oder Übergriffe erfolgen. Wer seine Kinder beaufsichtigen möchte, muss wissen, was Chaträume, Instant-Messenger-Systeme, Videoplattformen, Soziale Netzwerke wie „Facebook“ oder „wer-kennt-wen“ sind, wie man chattet, was ein Separee oder eine „bangfriendsapp“ bedeutet und er sollte die Technik soweit beherrschen, dass er Einblicke in die Aktivitäten seiner Kinder nehmen kann. Wer nicht weiß, wo die Gefahren lauern, ist nicht in der Lage, seine Kinder zu schützen. Und die Gefahren sind weit mehr als nur der Missbrauch von Bankzugangsdaten oder Betrug bei Einkäufen und Versteigerungen. Es geht um verbotene Pornografie, Ekelseiten, Menschenhandel, illegaler Heiratsmarkt, Prostitution, Gewaltverherrlichung, Handel mit illegaler Software und Musik, Rassismus, Extremismus, Cyber-Stalking, Cyber-Bullying, Glückspiel, Drogen, Internet- und Spielsucht, Suizidforen, Verführung, Belästigung, Bedrohung. Pseudonyme sollten keine Rückschlüsse auf das Geschlecht oder Alter zulassen, persönliche Daten, Fotos, Namen, Adressen, Handynummern oder E-Mail-Adressen sollten nicht herausgeben werden. Der Unbekannte im Netz kann der sein, der er behauptet zu sein, er muss es aber nicht. Falsche Identitäten sind sehr verbreitet. Eltern sollten von ihren Minderjährigen wissen, welche Pseudonyme sie verwenden, in welchen Chats sich ihre Kinder aufhalten.

 

Neue Medien, neue Täter, neue Opfer

Angebot und Nachfrage von Kinderpornos, die Lust am Kind ist ungebrochen. Gleichzeitig hat sich der Deliktsbereich zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen verändert. Es gibt neue Tatgelegenheiten, veränderte Modi Operandi und neue Täter. Belästigung und sexuelle Übergriffe zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen in der virtuellen Welt Internet werden häufiger, da mehr Kinder dieses Medium nutzen, und da einige Bereiche direkte und synchrone Interaktionen zulassen. Gleichzeitig sichert das Internet völlige physische Anonymität zu. So werden gerade Chaträume ein idealer Tatort für sexuelle Opferwerdungen, Gewalt und Aggression. Nach einer Studie von Katzer chatteten 2005 bereits 69 Prozent der 10 bis 19jährigen regelmäßig, 27,8 Prozent davon mehrmals täglich. An Tagen mit Schulunterricht werden durchschnittlich 70 Minuten Zeit, an Tagen ohne Schulunterricht 122 Minuten Zeit in Chaträumen verbracht. Erste Erfahrungen in Chaträumen werden im Durchschnitt mit 11,9 Jahren gemacht. Etwa ein Fünftel der Kinder ist beim ersten Chatbesuch noch nicht einmal 10 Jahre alt. Der Austausch von Fotos von Geschlechtsteilen, Videoszenen mit sexuellen Handlungen oder die Anfragen im „Cam-to-cam“-Kontakt, auch c-2-c genannt, eine Verbindung, bei der Teilnehmer am Chat eine Webkamera in Betrieb haben, die in Echtzeit Videobilder überträgt; sich auszuziehen bzw. sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen, sind keine Seltenheit mehr. Hier gehen die Grenzen zwischen körperlicher und virtueller Opferwerdung zunehmend ineinander über. Immer mehr Kinder werden ungewollt sexuell angesprochen, unaufgefordert nach ihrem körperlichem Aussehen, nach eigenen sexuellen Erfahrungen gefragt oder bekommen von sexuellen Erfahrungen anderer erzählt, bzw. erhalten Nacktfotos, Pornofilme oder Einladungen zu sexuellen Handlungen vor der Webcam. Wir haben immer schon einen Teil der Täter vernachlässigt, weil wir nicht alle Taten ermitteln können und weil wir besonders auf dem Auge der Otto-normal-Bürger und jungen Täter blind sind. Junge Opfer erstatten auch selten Anzeigen, da dies oft mit Nachteilen wie zukünftigem Internetverbot durch die Eltern verbunden ist oder Übergriffe werden von jungen Menschen als normal angesehen.

 

 

Hinter falscher Fassade

Die klassische Anzeige in den Printmedien war auch immer schon mit Vorsicht zu genießen. „Jung, hübsch und reich sucht?“ konnte alles Mögliche bedeuten. Um wahrgenommen zu werden, übertrieben manche Inserenten ein wenig, andere versetzten sich in eine Traumwelt und erfanden alles neu. Die Neuen Medien machen es noch einfacher mit unwahren und falschen Angaben aufzutreten, weil keine soziale Kontrolle mehr vorhanden ist. Mit einem Mausklick und dem Druck einiger Tasten bestätigt der Nutzer seinen Familienstand, sein Alter, seinen Wohnort, mit kopierten Bildern aus dem Netz oder vom Urlaub des Bekannten schlüpft der User in sein Wunsch-Äußeres. Die „Profile“ im Internet beruhen nicht selten auf Lug und Trug. So geht es auch Kindern und Jugendlichen bei ihren Chatpartnern. Der Reiz, endlich einen Menschen gefunden zu haben, der einen versteht, bewundert, mag, liebt, lässt Wünsche entstehen und Realität sich verändern. Unter Chat-Pseudonymen wie „Schmusebaerchen“, „Bistsosueß“ oder „Binlieb24“ unterhielt sich ein arbeitsloser 53-jähriger Mann viele Stunden am Tag über Chaträume mit minderjährigen Mädchen. Sein Internetprofil war geschmückt mit Blümchen und Herzchen. Sein Profil war falsch, das eines seiner Opfer allerdings auch. Die Schülerin machte sich zu einer angeblich 17-Jährigen, obwohl sie erst 14 war. Als er sie dann mit dem Auto abholte, war er weder jung noch attraktiv, doch seine Fantasie, seine Erfahrung in der Jugendsprache, seine Hartnäckigkeit und Frechheit, die in die virtuelle Liebe investierten Gefühle und vermutlich auch Bedrängen, Festhalten und Verriegeln der Autotüren ließen alle Enttäuschung überwinden und das Mädchen einsteigen. So nutzen Täter das Medium, um unter falschen Angaben Minderjährige zu kontaktieren und auszuspionieren, Schwachstellen, Nöte und Bedürftigkeit zu erfahren, sich einzuschmeicheln, Verständnis vorgaukeln, Hilfe anzubieten. Opfer nutzen das Medium und sind sich der Gefahren aufgrund fehlender Medienkompetenzen nicht bewusst. Sie stellen Intimes, private Daten und Bilder für die ganze Welt sichtbar ein, weil sie Freunde suchen, sie schlüpfen im Internet in eine Wunschpersönlichkeit mit schönem Äußeren, weil sie im wirklichen Leben ausgegrenzt, gemobbt, abgelehnt und ausgelacht werden, sie suchen sexuelle Erfahrungen, um in der Gruppe besseres Ansehen zu haben oder um bewusst mit Grenzerfahrungen, dem Risiko spielen, Kontakte zu älteren Männern einzugehen. Und das Medium selbst wiederum bietet mit einem Minimum an sozialer Kontrolle eine Plattform für alle denkbaren und nicht vorstellbaren Fantasien und Wünsche. Suchmaschinen helfen dabei, Beute zu finden. Immer mehr Mädchen im Kindes- oder Jugendalter entsprechen dem Beuteschema männlicher Pädosexueller, die sich immer häufiger der modernen Medien bedienen. Und immer mehr Mädchen präsentieren sich in sozialen Netzwerken von ihrer hübschesten, manchmal anzüglichsten Seite, um mit anderen Gleichaltrigen, wie sie meinen, zu konkurrieren, um möglichst oft angeklickt  zu werden, um neue Freunde aus der ganzen Welt zu finden. Manche Mädchen würden alles tun, um berühmt zu werden, andere, um bewundert, geliebt und verstanden zu werden. Gleichzeitig ist das Medium Internet auch ein Medium für die sexuelle Selbsterfahrung pubertierender Mädchen und Jungen. Aufgrund des hohen Anonymitätsgrades ist er auch der ideale Ort für die Suche nach erotischer Spannung, für das Ausprobieren verbotener Dinge. Hier können pubertierende Teenies neue Erfahrungen bezüglich der eigenen sexuellen Identitätsbildung machen oder sich über die eigene Sexualität austauschen, besonders wenn Sexualität im häuslichen, familiären Umfeld ein Tabuthema darstellt. Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Täter in Neuen Medien keineswegs nur erwachsene Fremdtäter sind. Gerade bei den mit dem Mobiltelefon gefilmten Übergriffen oder sexuellen Übergriffen in Chaträumen spielen gleichaltrige oder unwesentlich ältere Täter eine große Rolle. Es geht auch schon lange nicht mehr nur um den Kontakt mit Erwachsenen und das Anbieten von Pornografie durch Erwachsene. Heimlich aufgenommene Videos von intimen Situationen stellen auch Minderjährige selbst ins Internet. Und mit einer Bildbearbeitungssoftware werden Porträtfotos auf pornografische Darstellungen kopiert. Nach einem Streit werden die zuvor unter Minderjährigen einvernehmlich hergestellten intimen Aufnahmen öffentlich gemacht und ins Internet gestellt. Sexuelle Gewalttaten sind durch Jugendliche und Heranwachsende in den vergangenen Jahren schon mehrfach während der Tat gefilmt und danach verschickt worden. Auf diese Weise sollten die Opfer besonders gedemütigt werden.

Früher war Sexualität mit Tabu behaftet, heute ist es ein Tabu, über die Folgen sexueller Freizügigkeit zu sprechen. Sexsucht und Pornographiesucht werden kaum thematisiert. Die Auswirkungen werden von der Wissenschaft kaum zur Kenntnis genommen, obwohl ein großer Teil der Internetabhängigen darunter leidet und obwohl auch bei uns der Jugendschutz durch das Internet weitgehend unterlaufen wird. Erziehungsberechtigte und Pädagogen ahnen nicht, was Söhne und Töchter mit Handy und PC alles treiben. Ein Drittel der Internetnutzer zwischen 12 und 19 Jahren (Cameron et al., 2005) hatten schon einmal Kontakt mit pornographischen, rechtsradikalen oder gewalthaltigen Seiten. Nach Studien mit regelmäßigen Internetnutzern im Alter zwischen 14 und 17 Jahren in den USA, stoßen Jugendlichen am häufigsten unabsichtlich, d.h. durch Links in Emails oder irreführende URLs auf pornographische Inhalte. Beim weltgrößten Videoportal „YouTube“ sind Videos mit sexuellen oder schlüpfrigen Inhalten keine Seltenheit, in Portalen wie „YouPorn“ geht es ausschließlich darum. Wie in den meisten Bereichen des Internets genügt auch hier der Klick bei „Ich bin schon 18“, und schon ist der Nutzer in der Lage alle Videos anzuschauen oder herunterzuladen. Gleichzeitig bewerben gerade diese Videos dann wiederum Anbieter von weiterem pornografischem Material. Mehrerer hunderttausend Sexsüchtige und Internetsüchtige leben in Deutschland. Inzwischen gehen immer mehr Hilferufe von Ehepartnern bei Beratungsstellen ein. Jugendschutz lässt sich im Internet praktisch nicht umsetzen.

 

Die Kultur des Wegschauens und Schweigens. Was ist bei einem Hinweis, bei einem Verdacht oder nach einer Tat zu tun?

Ausreden sind einfacher und bequemer als Zivilcourage. Die verbreitete Kultur des Wegschauens und Schweigens ist in vielen Deliktsbereichen feststellbar, beim Delikt des sexuellen Missbrauchs von Kindern ist sie besonders ausgeprägt. Sexuelle Übergriffe in einer S-Bahn vor anderen Fahrgästen oder Zeugen in einem Schwimmbad, die mit anschauen, wie ein Erwachsener kleinen Jungs beim ausgelassenen Spielen immer wieder ins Höschen greift, bevor er mit ihnen nacheinander, einzeln in der Umkleidekabine verschwindet. Manche Täter gehen in eindeutig sexueller Absicht vor und rechnen damit, dass sich in der Öffentlichkeit kaum jemand einmischt. Richtig wäre es hinzusehen und nicht zu schweigen, darüber zu reden und unserer selbstverständlichen Erwachsenenpflicht nachzukommen, den Kindern beistehen, Hilfe zu leisten, Anzeige zu erstatten und als Zeuge zur Verfügung zu stehen. Bei Ihrer Polizei finden Sie in allen Lagen und für alle Fragen eine(n) hilfsbereite(n) und kompetente(n) Ansprechpartner(in).
(Titelfoto: A. Gallwitz)

 

Bücherliste

Gallwitz, A., Grünkram - Die Kinder-Sex-Mafia in Deutschland, Verlag Deutsche Polizeiliteratur, Hilden, 1997

Gallwitz, A., Die Lust am Kind. Die neue Polizei, 53. Jg., 2003, 2, S. 21-26

Gallwitz, A., Normal, krank, verboten, Sexualität? Sexuelle Devianz und Gesellschaft. Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, 14.Jg., 2007, 2, S. 83-95

Gallwitz, A., Pädokriminalität im Netz. Deutsche Polizei 58. Jg., 2009, 2, S. 6 – 17

Gallwitz, A., Kindermörder - Kinderfreunde, VdP, Hilden, 2000

Gallwitz, A., Horrorkids, VdP, Hilden, 2000

Gallwitz, A., Paulus, M., Pädokriminalität weltweit – Sexueller Kindesmissbrauch, Kinderhandel, Kinderprostitution und Kinderpornographie, VDP Hilden, 2009