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Bundesnachrichtendienst (Eingangstür), Berlin
© Von Carlo von Reyher - https://unsplash.com/photos/N_gXNajjCjg, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=109866580

Der Bundesnachrichtendienst – Aufgaben, Probleme, Defizite

Prof. Dr. Stefan Goertz, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei

Der Bundesnachrichtendienst sollte als deutscher Auslandsnachrichtendienst das sicherheitspolitische Frühwarnsystem der Bundesrepublik Deutschland sein, also wesentliche sicherheitspolitische Entwicklungen und Ereignisse prognostizieren. Dieser Beitrag untersucht vor dem Hintergrund der aktuellen Spionageaffäre des BND, der nicht prognostizierten Ereignisse des Ukrainekrieges und der zweiten Machtübernahme der Taliban in Afghanistan die Aufgaben, die Probleme und die Defizite des BND.

Aufgaben und Mittel des BND

Der Bundesnachrichtendienst (BND) ist neben dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und dem Bundesamt Militärischer Abschirmdienst (BAMAD) einer der drei deutschen Nachrichtendienste des Bundes und als einziger Nachrichtendienst Deutschlands zuständig für den Bereich der Äußeren Sicherheit. Der gesetzliche Auftrag des BND lautet: „Der Bundesnachrichtendienst sammelt zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind, die erforderlichen Informationen und wertet sie aus.“1 Der BND ist organisatorisch eine dem Bundeskanzleramt nachgeordnete Bundesoberbehörde. Im Bundeskanzleramt ist die Abteilung 7 für die Fachaufsicht über den BND zuständig. Der Bundesnachrichtendienst (BND) als deutscher Auslandsnachrichtendienst hat mit seinen aktuell etwa 6.500 Mitarbeitern den Auftrag, die Bundesregierung über Entwicklungen von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung zu informieren.

Dafür ist der BND aktuell in sechs Bereiche unterteilt:

  • Auswertung
  • Beschaffung
  • Nachrichtendienstliche Fähigkeiten
  • IT-Unterstützung
  • Zentrale Unterstützungsaufgaben
  • Innovative Technologien, Forschung und Ausbildung.2

Der BND folgt dem Prinzip „All-Source-Intelligence“, nutzt also alle Mittel zur Informationsgewinnung. Die klassischen Informationsarbeiten von Nachrichtendiensten sind:

  • Open Source Intelligence (OSINT)

Zu Beginn eines nachrichtendienstlichen Auftrags steht oftmals die Auswertung offen verfügbarer Informationen, beispielsweise aus Fachzeitschriften oder aus Datenbanken. Hierzu werden Recherchetools genutzt.

  • Human Intelligence (HUMINT)

Personen mit Zugang zu relevanten, wichtigen Informationen sind für jeden Nachrichtendienst entscheidend. Das Führen solcher Quellen ist sozusagen die „Königsdisziplin“ nachrichtendienstlicher Arbeit.

  • Imagery Intelligence (IMINT)

Wenn Analystinnen und Analysten wissen wollen, wie weit die Baufortschritte einer ausländischen Atomanlage fortgeschritten sind oder ob aktuelle Social-Media-Gerüchte über militärische Truppenbewegungen zutreffen, sind Satelliten- oder Luftbildaufnahmen oft ein guter Ausgangspunkt.3

  • Signals Intelligence (SIGINT)

Ob Satelliten- oder leitungsgebundene Kommunikation, E-Mails oder Voice-over-IP: Das Spektrum elektronischer Kommunikation ist breit und verändert sich ständig. Hierfür stellt moderne Erfassungs- und Filtertechnik für weltweite Datenströme eine entscheidende Voraussetzung dar.4

Aktuelle Defizite und Kritik am BND

Innerhalb von weniger als einem Jahr scheiterte der BND zwei Mal daran, den Zeitpunkt eines Kriegsausbruchs bzw. den Zeitpunkt des Sturzes eines politischen Systems vorherzusehen: Im Sommer 2021 das dramatisch schnelle Zusammenbrechen des afghanischen Staates, der über 20 Jahre von der westlichen Welt kostspielig aufgebaut worden war, im Februar 2022 dann den Beginn des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine. Daher wuchsen in der jüngsten Vergangenheit die Zweifel an der Analysekompetenz und Effizienz des BND.5

Afghanistan – Zweite Machtübernahme durch die Taliban, Analysefehler des BND

Zentrale in Berlin
© Von Andi Weiland - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=43705230

Bei der jährlichen öffentlichen Anhörung der Präsidenten der Nachrichtendienste räumte der Präsident des Bundesnachrichtendienstes, Bruno Kahl, im Herbst 2021 Fehleinschätzungen in Bezug auf die Entwicklungen in Afghanistan ein. Die rasche Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im Sommer 2021 sei für den Bundesnachrichtendienst überraschend gekommen, räumte BND-Präsident Bruno Kahl ein: „In Bezug auf den überraschend schnellen Machtwechsel in Afghanistan hat der BND Schwachstellen im Blick auf die Prognose identifiziert“, sagte er. „Wir sind gerade dabei, Lösungswege zu entwickeln und beispielsweise unsere Szenarioanalysen weiter zu verbessern“.6 Der BND habe – wie alle anderen Nachrichtendienste anderer Staaten auch – fälschlicherweise angenommen, dass die afghanischen Sicherheitskräfte länger durchhalten würden im Kampf gegen die Taliban.7

Der Bundesnachrichtendienst (BND) räumte bei einer Befragung durch den Bundestag Mitte August 2021 eine Fehleinschätzung der Lage in Kabul ein. Der BND als deutscher Auslandsnachrichtendienst hatte die Entwicklung in Afghanistan, die in die chaotische Evakuierung des internationalen Flughafens mündete, entscheidend falsch eingeschätzt. Der BND war noch weniger als 48 Stunden vor der Einnahme Kabuls durch die Taliban davon ausgegangen, „dass es wohl Wochen dauern werde, bis die Taliban in die Hauptstadt Kabul einrückten“. „An einem Vormarsch hätten die Islamisten derzeit kein Interesse“, hieß es in einem Lagebericht – „zudem würden ihnen die militärischen Mittel dafür fehlen“. „Eine Übernahme Kabuls in nächster Zeit sei ‘eher unwahrscheinlich‘“.8 Nach einer Befragung des BND durch Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums (PKGr) im Bundestag Mitte August 2021 gab es nicht nur ein Versagen des BND.

Gravierende Fehler wurden ganz offensichtlich auch bei der Bewertung der gesammelten Informationen und der Wahl der folgenden Maßnahmen durch die Politik und die zuständigen Ministerien Auswärtiges Amt und BMVg gemacht. Mitarbeiter des BND räumten ihren Anteil an der Fehleinschätzung der Lage in verschiedenen Sitzungen mit Bundestagsabgeordneten laut medialer Berichterstattung ein: „Wir haben es nicht gesehen“.9 „Offenkundig haben die Entwicklungen in Afghanistan die Bundesregierung unvorbereitet getroffen“, erklärte Konstantin von Notz (Grüne), der damals Stellvertretende Vorsitzende des Parlamentarischen Kontrollgremiums im August 2021. Das schwerwiegendste Problem sei der Abgleich der vorliegenden Analysen bei der Bundesregierung mit dem realen Geschehen in Afghanistan Anfang bis Mitte August 2021 gewesen. „Es zeigt sich deutlich, dass die Regierung nicht in der Lage war, zu erkennen, dass sich das reale Geschehen im Zeitraffer vollzog“, so von Notz.10

Der damalige deutsche Außenminister Heiko Maas erklärte Mitte August 2021, alle hätten die Lage in Afghanistan falsch eingeschätzt. Sicherheitsexperten widersprachen dieser Aussage allerdings und waren überzeugt, die Bundesregierung und die zuständigen Ministerien hätten die Realität in Afghanistan über Jahre nicht sehen wollen. „Was in Afghanistan seit Juni passiert ist, war kein unvorhersehbares Naturereignis“, sagte Hans-Ulrich Seidt Mitte August 2021.11 Seidt war von 2006 bis 2008 deutscher Botschafter in Kabul. Später reiste er als Chefinspekteur des Auswärtigen Amtes immer wieder in das Land. „Jeder, der es wissen wollte, konnte wissen, dass es in Afghanistan nicht gut läuft“, so der ehemalige deutsche Diplomat. „Das Problem ist, dass die vor Ort gesammelte ‚raw intelligence‘ beim BND, im Auswärtigen Amt und Kanzleramt durch viele Hände geht, bis sie auf der höchsten Ebene anlangt. Es wird dabei so lange gefeilt, bis es ins Bild der politisch Verantwortlichen passt.“12 Irgendwann hätte die Bundesregierung zwar ihre Fortschrittsberichte zu Afghanistan eingestellt. Aber an der Idee, erfolgreich eine liberale Zivilgesellschaft und eine stabile Regierung aufgebaut zu haben, habe man bis zum Schluss festgehalten, so der ehemalige deutsche Botschafter in Afghanistan. „Alternativszenarien und eine Worst-Case-Strategie wurden deshalb nicht wirklich verfolgt – und das obwohl seit Trump klar war, dass die Amerikaner den Einsatz unilateral beenden wollen.“13

Ukrainekrieg – Analysefehler des BND

Als die russischen Streitkräfte am 24.2.2022 die Ukraine angriffen, auch die Hauptstadt Kiew, hielt sich der Präsident des BND, Bruno Kahl, dort auf und musste die Hauptstadt auf dem Landweg verlassen. Manche interpretieren das so, als sei nicht allein der BND-Präsident, sondern der BND insgesamt von der Entwicklung überrascht gewesen.14 Der BND-Präsident Kahl sagte der Nachrichtenagentur Reuters am 28.1.2022, knapp einen Monat vor Kriegsbeginn: „Ich glaube, dass die Entscheidung über einen Angriff noch nicht gefallen ist“.15 Noch in der Nacht vor dem militärischen Angriffsbeginn der russischen Streitkräfte auf die Ukraine mussten die BND-Mitarbeiter der deutschen Residentur in Kiew hektisch die Geheimakten schreddern und der BND-Präsident Kahl am Morgen des Kriegsbeginns von deutschen Spezialkräften in einem Autokonvoi über die polnische Grenze zurück nach Deutschland gebracht werden. BND-Präsident Kahl und sein Autokonvoi befand sich im Stau des Trecks der flüchtenden Ukrainerinnen und Ukrainer, so dass er erst nach 36 Stunden die sichere Grenze zu Polen erreichte.16 Der deutsche Vizekanzler, Robert Habeck, erfuhr am Abend des 23.2.2023 aus einem US-Geheimdienstdossier, dass in der kommenden Nacht der russische Angriffskrieg beginnen würde, aber nicht von seinem deutschen Auslandsnachrichtendienst, dem BND.

Logo des BND (neben dem oben abgebildeten)
© Von Flowi, F l a n k e r, Gemeinfrei, https://commons.wikim
Gerhard Conrad widerspricht der aktuellen Kritik am BND deutlich. Conrad ist ein ehemaliger hochrangiger Mitarbeiter des BND und leitete zuletzt von 2016 bis 2019 das EU Intelligence Analysis Centre (INTCEN) des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Seiner Einschätzung nach sei der BND nicht von der russischen Invasion in die Ukraine überrascht worden und er bezeichnet die Kritik am BND als „eine Debatte auf Stammtischniveau“.17 Auf die Frage des Journalisten Mützel, „wenn der BND über Putins Kriegspläne im Bilde gewesen und diese Informationen ans Kanzleramt weitergereicht“ hätte, warum habe dann Bundeskanzler Scholz „weiter auf Diplomatie“ gesetzt, antwortete Conrad: „Aus der Forschung, speziell den ‚Intelligence Studies ‘, wissen wir: Es hilft nicht zu warnen, wenn der Gewarnte nicht hören will. Dass Geheimdienste auf eine Gefahr hinweisen und die Politik diese Warnung ignoriert, ist leider ein sehr banaler Vorgang“.18 Weiter sprach Conrad davon, dass bis zum 24.2.2022 in Deutschland „jede Form der ‚Militarisierung von Außen- und Sicherheitspolitik‘ abgelehnt“ worden sei, dass in Deutschland in weiten Teilen der Politik und Medien die Auffassung vorherrsche, „Geheimdienste müssten vor allem eingehegt und reguliert werden“, „anstatt sie erst einmal zu befähigen, ihren Job richtig machen zu können“.19 Als Zwischenfazit ist festzuhalten, dass der langjährige hochrangige BND-Mitarbeiter Conrad Fehler eher auf Seiten der politischen Verantwortlichen, der Bundesregierung, sieht und weniger auf Seiten des BND.

Positiv in Bezug auf den BND ist festzustellen, dass der BND seit Beginn des Ukrainekrieges den taktischen Funk der russischen Truppen abhört, die Kommunikation der Brigaden mit ihren Bataillonen und Regimenten.20 Über weitere Aktivitäten des BND in der Ukraine hält sich die Bundesregierung bedeckt. Mitte Mai 2022 öffnete die deutsche Botschaft in Kiew wieder, was auch bedeutet, dass der Bundesnachrichtendienst wieder seine Residentur dort personell besetzt hat, die vor Ort enger mit ukrainischen Nachrichtendiensten und den ukrainischen Streitkräften arbeiten kann. Der Bundesnachrichtendienst informierte Anfang April 2022, kurz nachdem das Massaker von Butscha bekannt geworden war, Abgeordnete des Bundestages in mehreren Ausschüssen.21 Die Unterrichtung in den Bundestagsgremien sollte unter anderem beweisen, dass der BND eigene Erkenntnisse über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine hat – hauptsächlich durch abgehörte Funksprüche oder Handytelefonate – und nicht auf die Informationen anderer Dienste wie der US-amerikanischen angewiesen ist. Ein Bundestagsabgeordneter lobte die Arbeit des BND dann auch im Nachhinein als „einwandfrei“.22

Kritik am BND – Schwächen und Stärken

Der Historiker Wolfgang Krieger, der einer unabhängigen Kommission zur Geschichte des BND angehörte, attestiert Deutschland, der deutschen Sicherheitspolitik, einen „Sonderweg“ im Umgang mit den deutschen Nachrichtendiensten. Sie seien „so unbeliebt wie nirgendwo sonst in der westlichen Welt“. In den USA, Großbritannien, Israel, Frankreich oder den Niederlanden seien Nachrichtendienste ein „selbstverständlicher Teil moderner Politik, hierzulande ein notwendiges Übel“. „Defizite bei der Leistungsfähigkeit nimmt man billigend in Kauf“, so der Historiker Krieger.23 Der ehemalige BND-Präsident August Hanning, der den Umzug des BND aus München-Pullach nach Berlin initiierte, bezeichnete des BND als den „Vegetarier unter den Geheimdiensten“.24

Daniel Hamilton, Fellow bei der Brookings Institution und Senior Fellow des Foreign Policy Institute der Johns Hopkins University, führte im Frühjahr 2023 aus, dass das Hinterfragen alter außenpolitischer Mantras jetzt passieren müsse, da der russische Angriffskrieg auf die Ukraine auch ein Angriff auf das deutsche Politikselbstverständnis gewesen sei. Auf „Merkeln“ und „Scholzen“ („scholzing“) sei bei Bundeskanzler Scholz nun der Begriff „Zeitenwende“ gefolgt. Hamilton gebraucht die Formulierung, die Weltanschauung für das gesamte Land Deutschland sei durch den Ukrainekrieg „komplett auf den Kopf gestellt“ worden.25 Militärische Macht, militärische Fähigkeiten seien nach dem Ende des „Kalten Krieges“, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion von 1990 bis 2022 für die Politik der deutschen Bundesregierungen in jenem Zeitraum von immer geringerer Bedeutung geworden, internationale Krisenintervention und Nation-building-Einsätze wie in Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan zur Kernaufgabe einer immer stärker reduzierten Bundeswehr mit immer weniger Budget und Fähigkeiten geworden anstatt militärischen Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung.26

Radome der Fernmeldeverkehrstelle des Bundesnachrichtendiensts (BND-Deckname: Hortensie III, Kürzel: 3 D 30), hier im Sommer 2006 im Einsatz. Diese waren bis 2004 Teil der ehemaligen Bad Aibling Station, eine Einrichtung des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA im Rahmen des weltweiten Spionagenetzes Echelon.[9]
© Von Dr. Johannes W. Dietrich - Eigene Photographie mit MINOX 35 GT, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3269584

Das Mindset – Zeitenwende im Kopf?!

Bei aller (berechtigter) Kritik am BND gilt es zu bedenken: Der Primat der Politik in Bezug auf die Fähigkeiten, die Ausrüstung, den Personalnachwuchs und den Mindset der Bundeswehr gilt auch für den BND als deutschen Auslandsnachrichtendienst. Übersetzt bedeutet dies: Die Nachrichtendienste einer Demokratie haben genau die Fähigkeiten, das Mindset, die Befugnisse und Mittel, die sie von den politischen Entscheidungsträgern, den Ministerien und deren Ministerialverwaltung vorgegeben bekommen.

Mit der von ihm ausgerufenen „Zeitenwende“ versprach Bundeskanzler Scholz einen Sonderfonds von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und das Erfüllen der 2%-Vorgabe der NATO, „mehr als 2 Prozent“ des BIP in die Verteidigung investieren und dazu beizutragen, das NATO-Gebiet zu verteidigen. Damit stellte Bundeskanzler Scholz auch in den Raum, die Zurückhaltung der Bundesregierung, die Geringschätzung von “Hard Power“ in der Sicherheitspolitik zu beenden. Dieses Versprechen einer Zeitenwende wurde aber schnell durch die Politik der Bundesregierung in Frage gestellt, als es um Waffenlieferungen an die Ukraine ging und zeitnahe, konkrete Maßnahmen, den 100-Milliarden Euro-Sonderfonds in die Bundeswehr zu investieren sowie das NATO-Ziel, zwei Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben, zu erreichen. Dazu kommt eine fehlende Zeitenwende im Kopf, also eine Änderung des Mindsets der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik.

Eine Zeitenwende im Kopf müsste analog auch beim BND und den anderen deutschen Nachrichtendiensten vollzogen werden. Diese Zeitenwende im Kopf, eine signifikante Änderung des Mindsets der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des BND, müsste allerdings von den politisch Verantwortlichen vorgegeben, von der Behördenleitung implementiert und von der Politik kontrolliert werden, damit die Umsetzung der politischen Vorhaben effizient und nachhaltig ist.

Der allgemein als „Terrorismus-Experte” anerkannte Marc Sageman, Psychologe und ehemaliger Mitarbeiter der CIA, formulierte 2014, zur weltweiten Hochphase des islamistischen Terrorismus: „Intelligence analysts know everything but understand nothing, while academics understand everything but know nothing“.27 Sinngemäß übersetzt meint er damit, dass die Analysten der Nachrichtendienste nachrichtendienstlich und offen beschaffte Informationen und Daten vorliegen haben, ihnen allerdings die Analysekompetenzen wissenschaftlicher Forschung auf entsprechendem Niveau fehlen. Eine Verwissenschaftlichung der nachrichtendienstlichen Analysekompetenz im BND ist dringend notwendig. Eine signifikante Stärkung der wissenschaftlichen Analysekompetenz wäre mittelfristig schneller, auch finanziell günstiger zu erreichen, als die Zeitenwende im Kopf der allermeisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die sicherheitspolitische Analysekompetenz des BND sollte so schnell wie möglich durch externe Wissenschaftler gestärkt werden, welche die sicherheitspolitische Schule des Realismus und nicht utopisch-idealistische Standpunkte vertreten.

Die Fähigkeiten der BND-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter darin zu stärken, “outside the box“ zu denken, sollten zeitnah durch eine Zeitenwende im Kopf (signifikante Änderung des Mindsets) sowie durch ein deutlich erhöhtes Niveau der wissenschaftlichen Analysekompetenz, umgesetzt werden.

Der aktuelle Spionage-Skandal

Am 21.12.2022 wurde der hochrangige Mitarbeiter des BND, Carsten L., Referatsleiter (Bundesbesoldungsordnung A16) in der Abteilung Technische Aufklärung des BND, aufgrund eines Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 16.12.2022 in Berlin von Beamten des mit den Ermittlungen beauftragten Bundeskriminalamtes festgenommen. Die Abteilung Technische Aufklärung des BND ist in etwa für die Hälfte von mehreren Hundert Meldungen, die der BND pro Tag erstellt, verantwortlich, so dass dieser Abteilung und dem Referat, das Carsten L. bis zu seiner Festnahme leitete, eine entscheidende Rolle im BND zukommt.28 Russische Geheimdienstmitarbeiter sollen von Carsten L. u.a. wissen gewollt haben, wie viele US-amerikanische Mehrfachraketenwerfer des Typs Himar an die ukrainischen Streitkräfte geliefert wurden, ob deren GPS-Funktionen aktiviert seien und auch Fragen zum von Deutschland gelieferten Luftabwehrsystem Iris-T sollen sie an Carsten L. gestellt haben.29

Zudem wurden die Wohnung und der Arbeitsplatz des Beschuldigten sowie einer weiteren Person durchsucht. Der Beschuldigte ist nach Angaben des Generalbundesanwalts (GBA) des Landesverrats dringend verdächtig (§ 94 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 StGB). In dem Haftbefehl wird Carsten L. nach Angaben des Generalbundesanwalts im Wesentlichen folgender Sachverhalt zur Last gelegt: Im Jahr 2022 übermittelte er Informationen, die er im Zuge seiner beruflichen Tätigkeit erlangt hatte, an einen russischen Geheimdienst. Bei dem Inhalt handelt es sich um ein Staatsgeheimnis im Sinne des § 93 StGB.

Auf die Spur des mutmaßlichen „Maulwurfs“ kam der BND Anfang des Jahres 2022 durch den Hinweis eines ausländischen Partnernachrichtendienstes, Russlands Geheimdiensten und Streitkräften seien BND-Geheimnisse zugänglich gemacht worden. Der BND startete daraufhin interne Ermittlungen.

Der Präsident des BND, Bruno Kahl, äußert sich wie folgt zu diesem aktuellen Verratsverdacht eines seiner Referatsleiter: „Ich entsinne mich noch an den ersten Moment, wo mein Vizepräsident mir sagte: Wir müssen mit unserem Partner reden, der hat schlechte Nachrichten für uns. Und ab dem Moment war man natürlich, war man natürlich angespannt, und dann gab es ein Mosaiksteinchen nach dem anderen, bis wir dann wussten, es gibt Verrat. Das ist so mit das Unangenehmste, was einem Nachrichtendienst passieren kann […].“ „Wir werden uns systematisch angucken müssen, was bei uns falsch gelaufen ist. Wir haben ja sowohl im Operativen als auch in der Sicherheit Regeln, die beachtet werden müssen. Und hier sind einige verletzt worden […]“. „Es sind Fehler gemacht worden, und wer den Schaden hat, braucht dann für den Spott nicht mehr zu sorgen“.30

Carsten L. soll in den 1990er Jahren strafrechtlich aufgefallen sein. Es gab Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Körperverletzung, Beleidigung von Polizisten und Trunkenheit am Steuer, er musste eine Geldstrafe bezahlen, aus der Bundeswehr entlassen wurde er nicht. Im Dienst soll er gegenüber Kollegen rassistische, flüchtlingsfeindliche Bemerkungen gemacht haben. Sinngemäß soll er gesagt haben, man solle Flüchtlinge „standesrechtlich erschießen“.31 Sollte Carsten L. solche menschenfeindlichen Aussagen tatsächlich getätigt haben, hätte der BND eine solche Person natürlich niemals zum Referatsleiter ernennen dürfen, sondern ihn nach einer dienstrechtlichen Untersuchung aus dem BND entlassen müssen.

Als Zwischenfazit ist festzustellen, dass dieser aktuelle Spionage-Skandal eklatante Fehler, ja ein eklatantes Versagen des BND offenbart, u.a. im Bereich der Eigensicherung. Dass eine Person wie Carsten L. bei seinem Hintergrund Referatsleiter im BND werden konnte, ist nicht zu verstehen und die Fehler der Abteilung Eigensicherung bei seiner Sicherheitsüberprüfung müssen derartig untersucht werden, dass systemische Schwächen der Abteilung Eigensicherung sofort analysiert und Gegenmaßnahmen getroffen werden müssen.

Fazit

Der Bundesnachrichtendienst hat den Auftrag zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind, und dazu erforderliche Informationen zu sammeln und auszuwerten. Über diese Erkenntnisse muss der BND das Bundeskanzleramt und die betroffenen Bundesministerien unterrichten.

Unsere Sicherheitsbehörden sind so gut, wie die Kompetenzen und die Finanzmittel, die ihnen von den politischen Verantwortlichen zugeteilt werden. Hinzu kommt, wie oben ausgeführt, das Mindset, das von der Politik erwünscht ist. Der BND hat es in den letzten Monaten und Jahren zu oft nicht geschafft, wesentliche sicherheitspolitische Ereignisse zu prognostizieren. Ein „weiter so“ darf es hier im Interesse der Äußeren Sicherheit Deutschlands nicht geben. Wie oben beschrieben, müssen die Analysekompetenz und das Mindset der allermeisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter schnellstmöglich an die sicherheitspolitische Realität angepasst werden. Sicherheitspolitische Entwicklungen und Ereignisse sollten im Interesse der Äußeren Sicherheit Deutschlands nach der realistischen Schule von Sicherheitspolitik prognostiziert und analysiert werden. Dieses realistische Verständnis von Sicherheitspolitik im Sinne eines Mindsets müsste dafür allerdings auch von den politischen Verantwortlichen vertreten werden.

-Dieser Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Autors dar.-

Quellen:

1  https://www.gesetze-im-internet.de/bndg/BJNR029790990.html (17.7.2023).
2  Vgl. https://www.bnd.bund.de/DE/Der_BND/Organisationsbereiche/Organisationsbereiche_node.html (17.7.2023).
3  Vgl. https://www.bnd.bund.de/DE/Die_Arbeit/Informationsgewinnung/informationsgewinnung_node.html (17.7.2023).
4  Vgl. ebd.
5  Vgl. https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/die-bnd-blamagen-nach-afghanistan-ist-deutscher-geheimdienst-auch-bei-krieg-in-ukraine-
uninformiert_id_64410718.html (17.7.2023); Goertz, S. (2022): Der Krieg in der Ukraine und die Folgen für Deutschland und Europa. Wiesbaden.
6  Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/geheimdienste-zur-sicherheitslage-bnd-will-konsequenzen-aus-100.html (17.7.2023).
7  Vgl. ebd.
8  Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article233245699/Bundesnachrichtendienst-Fehleinschaetzungen-zu-Afghanistan.html (17.7.2023).
9  Vgl. ebd.
10  Vgl. ebd.
11  https://www.nzz.ch/international/wer-das-land-kennt-ist-vom-rasanten-fall-afghanistans-nicht-ueberrascht-ld.1640894 (17.7.2023).
12  Vgl. https://www.nzz.ch/international/wer-das-land-kennt-ist-vom-rasanten-fall-afghanistans-nicht-ueberrascht-ld.1640894 (17.7.2023).
13  Vgl. ebd.
14  Vgl. https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-der-bnd-hat-die-ereignisse-im-land-auf-dem-schirm-ZSPMAOIXJFDCZE6ANRLQGILL2Y.html (17.7.2023).
15  Vgl. Zitiert nach: Ebd.
16  Vgl. Baumgärtner, Maik/Knobbe, Martin/Lehberger, Roman/Schmid, Fidelius/Wiedemann-Schmidt, Wolf (2023): Der Vegetarier unter den Geheimdiensten. In: Der Spiegel, Nr. 11/2023, S. 14-16.
17  Zitiert nach: https://www.t-online.de/nachrichten/ausland/id_91813766/hat-der-bnd-im-ukraine-krieg-versagt-herr-conrad-.html (14.6.2023).
18  Zitiert nach: Ebd.
19  Zitiert nach: Ebd.
20  Vgl. https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/politik/russland-ukraine-krieg-rolle-bundeswehr-bnd-100.html (17.7.2023).
21  Vgl. https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-der-bnd-hat-die-ereignisse-im-land-auf-dem-schirm-ZSPMAOIXJFDCZE6ANRLQGILL2Y.html (17.7.2023).
22  Vgl. ebd.
23  Zitiert nach: Baumgärtner, Maik/Knobbe, Martin/Lehberger, Roman/Schmid, Fidelius/Wiedemann-Schmidt, Wolf (2023): Der Vegetarier unter den Geheimdiensten. In: Der Spiegel, Nr. 11/2023, S. 14-16.
24  Zit nach: Ebd.
25  Vgl. https://internationalepolitik.de/de/zeitenwende-im-kopf (17.7.2023).
26  Vgl. ebd.
27  Sageman, M. (2014): The stagnation in terrorism research; in: Terrorism and Political Violence, 26, S. 565-580.
28  Vgl. Baumgärtner, Maik/Knobbe, Martin/Lehberger, Roman/Schmid, Fidelius/Wiedemann-Schmidt, Wolf (2023): Der Vegetarier unter den Geheimdiensten. In: Der Spiegel, Nr. 11/2023, S. 14-16.
29  Vgl. Baumgärtner, Maik/Grozev, Christo/Höfner, Roman/Knobbe, Martin/Lehberger, Roman/Schmid, Fidelius/Wiedemann-Schmidt, Wolf (2023): Casino der Spione. In: Der Spiegel, Nr. 11/2023, S. 9-13.
30  https://www.rbb-online.de/kontraste/archiv/kontraste-vom-29-03-2023/im-visier-des-kreml-russische-spionage-in-deutschland.html (17.7.2023).
31  Vgl. Baumgärtner, Maik/Grozev, Christo/Höfner, Roman/Knobbe, Martin/Lehberger, Roman/Schmid, Fidelius/Wiedemann-Schmidt, Wolf (2023): Casino der Spione. In: Der Spiegel, Nr. 11/2023, S. 9.
 
Über den Autor
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz, Professor für Sicherheitspolitik, Schwerpunkt Extremismus- und Terrorismusforschung, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei
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