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Antisemitismus auf dem Vormarsch

Neue ideologische Dynamiken

Gustav Gustenau; Florian Hartleb (Hrsgg.),
Nomos Verlag, Baden Baden 2024,
270 Seiten.
ISBN 3-7560-1858-1.
Ladenverkaufspreis 64 €.
Am 7. Oktober 2023 überfiel die Hamas Israel. Mehr als 1400 Kinder, Frauen, Männer wurden ermordet und 240 Menschen in den Gaza-Streifen entführt. Fotos und Videos von grauenvollen Taten kursierten bald im Internet. Verstörend war vom ersten Moment an, dass es Menschen gab, die diese Taten bejubelten. Beifallsbekundungen für diese scheußlichen Verbrechen gab es auch in Deutschland. Das Freudengeschrei kam aber nicht nur aus den Reihen der Palästinenser oder Muslime, ein hohes Maß an Verständnis für die Täter fand sich bald auch in als gebildet zu bezeichnenden Teilen der deutschen Bevölkerung. An mehreren Hochschulen fanden lautstarke Demonstrationen statt, in denen viel Nachsicht für die Täter und wenig Mitgefühl für die Opfer gezeigt wurde. Mit den ersten militärischen Gegenschlägen Israels erreichten die Kundgebungen gegen Israel eine neue Qualität und Quantität. Dabei war Antisemitismus nicht nur zu spüren, er trat offen, unmaskiert zu Tage. Irritierend wirkten auch manche Äußerungen deutscher Politiker. In deren Stellungnahmen war der Leitgedanke, dass die Existenz Israels zur deutschen Staatsräson gehört, nicht mehr zu spüren.

Gustav Gustenau und Florian Hartleb, die Herausgeber des hier zu besprechenden Buches, gehen das Thema Antisemitismus zusammen mit den Autoren dieses Sammelbandes aus unterschiedlichen Perspektiven an. Die Eckpfeiler einer wissenschaftlichen Betrachtung des Antisemitismus setzt Michael Wolffsohn, der über 30 Jahre an der Universität der Bundeswehr in München Neuere Geschichte lehrte. Er zertrümmert eindrucksvoll die Vorstellung, Antisemitismus sei ein Phänomen, das man durchweg in ungebildeten Kreisen der Bevölkerung anträfe. Ganz im Gegenteil gäbe es den Judenhass auch in den gebildeten Kreisen.

Im Anschluss beschreiben der Politikwissenschaftler Florian Hartleb und der pensionierte österreichische General Gustav Gustenau die Realität des gegenwärtigen Antisemitismus. Dazu gehen sie zurück bis zu den Wurzeln des Antisemitismus und skizzieren dessen geschichtliche Entwicklung bis hin zum 7. Oktober 2023.

An diesen Überlegungen setzen die neun Aufsätze dieses Buches an, die zwei Leitgedanken zugeordnet werden können. Zum einen nehmen sie die ideologischen Grundlagen des Antisemitismus in den Blick, wobei sie die große Bedeutung der virtuellen Dimension herausstellen. Zum anderen legen sie einen Schwerpunkt auf die Gefahren, die vom politischen Islamismus ausgehen. Verkürzend könnte man somit den Band trennen in Beiträge, die eher die theoretische Seite und andere, die mehr die praktische Seite des Antisemitismus beleuchten.

In die erste Kategorie ist Lars Rensmanns Beitrag zu verorten, der den Antisemitismus im globalen und digitalisierten Zeitalter betrachtet. Er beklagt, dieses Thema sei „äußerst wichtig, aber noch wenig erforscht“. Als eine Ursache dafür sieht er die starke Politisierung des Themas. Er spitzt zu, wer über Antisemitismus forsche, setze sich dem Vorwurf aus, er betreibe „zionistische Propaganda“. Er konstatiert „eine fortschreitende Erosion der Grenzen des Sagbaren in digitalen Medienökologien“.

Diese These leitet über zu Gabriel Weimann, der sich mit dem „online-Antisemitismus“ befasst. Dieser Bereich erhält für ihn eine unselige Dynamik durch neue, noch schnellere Verbreitungsmöglichkeiten der Hassideologien, die sich bisher einer staatlichen Kontrolle weitgehend entziehen können. Hier sieht er KI (künstliche Intelligenz) gleichermaßen als Fluch – weil sie grenzenlos antisemitische Propaganda produzieren kann – als auch als Segen, weil sie den Strafverfolgungsbehörden neue Möglichkeiten der Bekämpfung eröffnet.

Mehr die praktische Seite betrachten Wyn Brodersen und Maik Fielitz, in ihrem Beitrag über die „unheilvolle Anziehung des Online-Antisemitismus“. Sie stellen dabei fest, dass zunehmend Einzeltäter auftreten, die nicht von „konventionellen Gruppen und Bewegungen rekrutiert werden“.

Eher grundsätzliche Fragen stellt und beantwortet Armin Langer wenn er „antisemitische Mythen im Internet inmitten globaler Krisen“ analysiert. Exemplarisch geht er dabei auf die Covid-19-Pandemie, den Krieg Russlands gegen die Ukraine und den „Israel-Hamas-Konflikt“ ein. Auch er fordert staatliche Maßnahmen gegen den online-Antisemitismus. Dieser erfordere „ein neues Engagement, um den Kreislauf von Vorurteilen zu unterbrechen.“

Die praktische Seite des aktuellen Antisemitismus in Deutschland untersucht Stefan Goertz. Er stellt die Frage, ob man von einer neuen Querfront sprechen kann, die sich aus Rechtsextremisten, Islamisten, sogenannten Grauen Wölfen und Linksextremisten rekrutiert. Hiermit greift er eine Aussage des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, vom November 2023 auf. Goertz sieht keine durchgehende Querfront sehr wohl aber personelle und auch organisatorische Überschneidungen „zwischen Rechtsextremisten, ‚Reichsbürgern‘ und ‚Selbstverwaltern‘ sowie Delegitimierern.“ Hiervon trennt er eine weitere Querfront, die sich aus „Islamisten, Salafisten, Mitgliedern des auslandsbezogenen Extremismus sowie teilweise auch Linksextremisten“ bildet.

Auf ein oben bereits angesprochenes Phänomen, der Radikalisierung Einzelner im Internet, gehen Florian Hartleb und Christoph Schiebel näher ein, wenn sie „Antisemitismus als Tatmotiv von rechtsextremen Lone Actors“ beschreiben. Auch terroristische Attentäter wie Stephan Balliet, der am 9. Oktober 2019 in Halle einen Anschlag auf die Synagoge verübte und anschließend zwei Menschen ermordete, erfuhren ihre Radikalisierung im Internet. Die Autoren sehen mit Sorge, dass aus dem Gaza-Krieg neue Radikalisierungen erwachsen könnten, in denen sich neue Täterkonstellationen ergeben könnten. Sie kommen zu dem Ergebnis: „Die politische Polarisierung macht zukünftige Taten von Lone Actors wahrscheinlich.“

Auf „eine beunruhigende Entwicklung“, den islamistischen Antisemitismus, geht Nina Scholz ein. Sie stellt heraus, dass „in einer Gruppe von Muslimen und Musliminnen zwei- bis dreimal so viele Menschen mit antisemitischen Einstellungen zu finden sind als in anderen Gruppen.“ Als Ursachen sieht sie die elterliche Erziehung und das soziale Umfeld, eine Beeinflussung durch arabische und türkische TV-Sender und diverse „Social Media-Kanäle“, die eine Judenfeindschaft darstellen, „die sich keineswegs nur in Verbindung mit dem Staat Israel äußert, sondern Juden in ihrer Gesamtheit trifft.“ Im Detail betrachtet, erfolgt die Radikalisierung unter anderem durch die Charta der Hamas, aber auch durch Stellungnahmen der Muslimbruderschaft oder die Milli-Görüş-Bewegung und „nicht zuletzt die Parolen auf den Pro-Palästinensischen Demonstrationen“.

Mit „Antisemitismus und Israelfeindlichkeit im Linksextremismus“ in Deutschland seit 1967 befasst sich Armin Pfahl-Traughber. Auf den ersten Blick hat „Antisemitismus eigentlich keinen Bezugspunkt in der linksextremistischen Ideologie.“ Er erwächst über einen Umweg, nämlich „im angeblichen Engagement für die Menschenrechte von Palästinensern“, woraus es sich ergibt, „ungehindert gegen den israelischen Staat zu agitieren.“ Hieraus folgt, dass Linksextremisten angeblich für die Opfer und Schwachen eintreten, „während sie Israel als inhumanes und unterdrückerisches System diffamieren können.“ Dies geht bis hin zur gemeinsamen Forderung mit islamistischen Gruppierungen, die die Vernichtung der Existenz Israels fordern mit dem pro-palästinensischen Slogan „From the river to the sea“.

Abschließend gehen Florian Hartleb und Christoph Schiebel auf den „Antisemitismus als Kitt einer vermeintlich heterogenen Bewegung“ ein und nehmen dabei die Reichsbürger und Staatsverweigerer in den Blick. Als Gemeinsamkeiten in einer recht heterogenen Szene stellen die Autoren Verschwörungsmythen und ein grundsätzliches Misstrauen in den Staat heraus. Sie fassen zusammen: „Nicht nur der Staat wird zum Feind erklärt, sondern die Gesellschaft als solche – und wie immer fungiert der ‚Jude‘ als Sündenbock.“

-Von Dr. Reinhard Scholzen-