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Wie gefährlich sind „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie Delegitimierer?
Analyse des Gewaltpotenzials
Von Prof. Dr. Stefan Goertz, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei
Dieser Beitrag untersucht vor dem Hintergrund aktueller Fälle von Gewalt und geplanten Straftaten das Gewaltpotenzial, das von militanten „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ sowie „Delegitimierern“ ausgeht. Dazu werden zunächst die Akteure und ihre Ideologie kurz skizziert und dann ihr Gewaltpotenzial analysiert. Hierzu werden sowohl aktuelle Gewalttaten von Akteuren dieser beiden Extremismusbereiche dargestellt, als auch – auf Grundlage des aktuellen Erkenntnisstandes – die Pläne der gewaltbereiten „Reichsbürger“-Gruppe dargelegt, die am 7.12.2022 zu 150 polizeilichen Razzien von ca. 3000 Polizeibeamten in elf Bundesländer mit 25 Festnahmen führten.
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ – Akteure und Ideologie
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz Gruppierungen und Einzelpersonen, die aus verschiedenen Motiven und mit verschiedenen Begründungen – u.a. unter Berufung auf das historische Deutsche Reich, Verschwörungstheorien oder ein selbst definiertes Naturrecht – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und ihr Rechtssystem ablehnen, den Politikern als demokratisch gewählten Repräsentanten die Legitimation absprechen oder sich gar komplett als außerhalb der Rechtsordnung stehend definieren, was in der Vergangenheit zu Verstößen gegen die Rechtsordnung geführt hat und weiter führen wird.1
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sind in der Analyse der deutschen Verfassungsschutzbehörden ein eigener Phänomenbereich von Extremismus, ein Phänomenbereich sui generis. Das aktuelle Personenpotenzial umfasst nach Angaben des BfV 23.000 Menschen. Innerhalb der Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ ist laut Bundesamt für Verfassungsschutz ein kleinerer Teil dem Rechtsextremismus zuzurechnen; so seien rechtsextremistische Ideologieelemente bei der Mehrheit der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ nur gering ausgeprägt. Aktuell werden 1.250 Mitglieder der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ als rechtsextremistisch eingeschätzt. Dessen ungeachtet sind es vor allem die staatsfeindlichen und verschwörungstheoretischen Grundzüge in der Argumentation des Personenspektrums, die eine Anschlussfähigkeit an antisemitische Erklärungsmuster, die auch im Phänomenbereich „Rechtsextremismus“ eine wichtige Rolle spielen, darstellen.
Die Bandbreite antisemitischer Einstellungen und Äußerungen unter „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ reicht dabei von Schuldzuweisungen Einzelner, die „die Juden“ für ihre Arbeitslosigkeit verantwortlich machen, über offen antisemitische und oftmals über Codes und Chiffren transportierte Verschwörungstheorien, wonach z.B. der Erste Weltkrieg von „den Juden“ geplant worden sei, bis hin zur Leugnung des Holocaust. Zur Verbreitung ihrer Ideologieelemente und ihrer Argumentationsmuster nutzen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ vor allem das Internet und soziale Netzwerke. Aber auch in der Realwelt entwickeln sie unterschiedliche Aktivitäten, mit denen sie ihre nach Angaben der Verfassungsschutzbehörden juristisch meist völlig abwegigen Ansichten verbreiten. Die Unterscheidung zwischen „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ gestaltet sich laut Bundesamt für Verfassungsschutz teilweise schwierig: „Reichsbürger“ berufen sich hinsichtlich des Staatsgebiets und des Rechtsstandes auf ein wie auch immer geartetes „Deutsches Reich“ und lehnen deshalb die Bundesrepublik Deutschland ab. „Selbstverwalter“ fühlen sich dem Staat und seiner Rechtsordnung nicht zugehörig. Sie erklären mitunter ihren „Austritt“ aus diesem und den Eintritt in eine „Selbstverwaltung“.2
Das Gewaltpotenzial militanter „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“
Die Verfassungsschutzbehörden stufen diesen Extremismusbereich insgesamt als staatsfeindlich ein. Aktuell rechnen die Verfassungsschutzbehörden diesem Extremismusphänomen deutschlandweit etwa 23.000 Personen zu. Von diesen 23.000 Personen werden ca. 2.100 als gewaltorientiert bewertet.3 Die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ besteht zu etwa drei Vierteln aus Männern. Bundesweit gibt es rund 28 Gruppierungen, unter anderem den „Staatenbund Deutsches Reich“ mit „Gliedstaaten“, „Bismarcks Erben“ mit der Untergliederung „Vaterländischer Hilfsdienst“ (VHD) und die „Verfassunggebende Versammlung“.
Nach Angaben des BfV muss bei „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ auch die Anwendung massiver körperlicher Gewalt gegen Vertreter des deutschen Staates einkalkuliert werden. Vor allem bei polizeilichen Maßnahmen gegen „Reichsbürger“ oder „Selbstverwalter“ bestehe zunehmend ein „hohes Eskalationspotenzial“.4 Das teilweise erhebliche Gewaltpotenzial der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“-Szene richtete sich in den letzten Jahren und Monaten vornehmlich gegen Gerichtsvollzieher und Polizeibeamte. Polizeieinsätze bezeichnet die Szene als „Überfälle“, gegen die „Notwehr“ geboten sei.5
Seit Mitte 2020 beobachten die deutschen Sicherheitsbehörden, dass sich „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ immer wieder nicht mehr damit begnügten, im Zusammenhang mit „Corona-Demonstrationen“ lediglich ihren Protest zu äußern, sondern auch körperliche Gewalt anzuwenden, beispielsweise gegen eingesetzte Polizeikräfte. So beteiligten sich „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ am Demonstrationsgeschehen gegen die Corona-Maßnahmen vom 28.bis 30. August 2020 im Umfeld des Reichstagsgebäudes in Berlin, was medial „Sturm auf den Reichstag“ genannt wurde. Laut Polizeimeldung vom 30.8.2020 wurden dadurch 33 Polizeibeamte verletzt, 316 Personen festgenommen sowie 131 Strafanzeigen gestellt, unter anderem wegen Beleidigung, tätlichem Angriff auf Polizeibeamte, Gefangenenbefreiung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte sowie Körperverletzung. Zudem wurden 255Anzeigen wegen Ordnungswidrigkeitsverstößen aufgenommen.6
Die Gewaltbereitschaft von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ zeigte sich in den letzten Jahren immer wieder bei Reaktionen auf staatliche Exekutivmaßnahmen. Am 19.10.2016 erschoss der „Reichsbürger“ Wolfgang P. in Georgensgmünd (Bayern) einen SEK-Beamten. P. wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt7.
Am 17. April 2020 wurde der „Selbstverwalter“ Adrian U. vom Landgericht Halle wegen versuchten Mordes, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und illegalen Waffenbesitzes zu sieben Jahren Haft verurteilt. Adrian U. gehört der Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ an. Im Jahr 2015 begann er, die Legitimität deutscher Behörden mit Anschauungen infrage zu stellen, die für „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ als typisch gelten können. Er „gründete“ den Fantasiestaat „Ur“, stellte sein Grundstück in Reuden (Sachsen-Anhalt) unter „Selbstverwaltung“ und zog eine „Grenzlinie“ um seinen „Staat“. Am 24. August 2016 versuchte ein Gerichtsvollzieher, die Zwangsräumung des Grundstücks durchzusetzen. Adrian U. hatte zuvor im Internet gegen die drohende Zwangsvollstreckung mobilisiert, woraufhin sich zahlreiche Sympathisanten auf seinem Grundstück versammelten, um ihn zu unterstützen. Daher bat der Gerichtsvollzieher für den Folgetag um polizeiliche Amtshilfe. Während dieses Einsatzes kam es dann zu einem Schusswechsel, bei dem Adrian U. einen Beamten am Hals verletzte. Er selbst wurde ebenfalls angeschossen und musste schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden.8
Am 19.10.2016 wollten Polizeibeamte eines SEK bei dem Szeneangehörigen Wolfgang P. in Georgensgmünd (Bayern) rund 30 in seinem Besitz befindliche Jagd- und Sportwaffen sicherstellen. Als sie in den frühen Morgenstunden in dessen Wohnung eindrangen, trug P. bereits eine schusssichere Weste und eröffnete sofort das Feuer auf die Beamten. Vier Polizisten wurden bei dem Einsatz verletzt, von denen einer kurze Zeit später seinen schweren Verletzungen erlag. Wolfgang P. wurde im Oktober 2017 vom Landgericht Nürnberg-Fürth wegen Mordes an einem Polizisten, versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.9
Der Mord von Wolfgang P. an dem bayerischen SEK-Beamten gegen die verhassten staatlichen Maßnahmen wurde von anderen Mitgliedern der Szene teilweise begeistert als berechtigte „Notwehrhandlungen“, als „Widerstand“ gefeiert. Im Nachgang kam es sogar zu Mordaufrufen gegen die an den Maßnahmen beteiligten Beamten: „Wir werden uns einen nach dem anderen der gestern Beteiligten holen, (…) sie dann (…) hinrichten, verbrennen und verscharren“.10
Auch aufgrund ihrer hohen Waffenaffinität stellen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ ein erhöhtes Gefährdungspotenzial dar. In den USA wurden durch Personen aus einem vergleichbaren Spektrum („Sovereign Citizens“) bereits mehrere Polizisten getötet.
Im Januar 2023 erhob der Generalbundesanwalt Anklage gegen den mutmaßlichen „Reichsbürger“ Ingo K., unter anderem Anklage wegen versuchten Mordes und gefährlicher Körperverletzung. Der mutmaßliche „Reichsbürger“ Ingo K. aus dem baden-württembergischen Boxberg war am 20.4.2022 im Rahmen eines SEK-Einsatzes verhaftet worden. K. hatte sich über zwei Stunden in seinem Wohnhaus verschanzt und immer wieder auf Polizeibeamte eines SEK geschossen. Dabei hatte er einen SEK-Beamten mit einer Kalaschnikow schwer verletzt. Der Anlass für die Festnahme war ein vorausgegangener Verstoß gegen das Waffengesetz, da dem Mann die Erlaubnis zum Besitz einer Handfeuerwaffe der Marke Glock entzogen worden war.11
Ende März 2023 wurde ein „Reichsbürger“ aus dem Kreis Lörrach vom Oberlandesgericht Stuttgart zu zehn Jahren Haft verurteilt. Der Mann hatte einen Polizisten im Jahr zuvor bei einer Verkehrskontrolle umgefahren und schwer verletzt. Der Polizist erlitt massive Kopfverletzungen und ist bis heute dienstunfähig. Der verurteilte „Reichsbürger“ muss ihm laut Gericht 30.000 Euro Schmerzensgeld zahlen und sämtliche Kosten - wie etwa Behandlungskosten - ersetzen. Außerdem muss der Verurteilte nach seiner Haftentlassung für fünf Jahre seinen Führerschein abgeben. Der „Reichsbürger“ habe erhebliche Verletzungen und den möglichen Tod des Polizisten in Kauf genommen, „um seine ideologische Überzeugung durchzusetzen“, hieß es in der Urteilsbegründung des OLG Stuttgart. Polizisten bezeichnete der „Reichsbürger“ als „Terroristen“ und „Kombattanten“, er sprach sich selbst das „Recht“ zu, diese „straffrei zu eliminieren“. „Wenn man seine eigene Fantasierechtsordnung über das Leben anderer Menschen stellt, dann ist das ein niederer Beweggrund“, führte der Richter aus.12
Bei einer „Reichsbürger“-Razzia in Reutlingen am 22.3.2023 wurde ein SEK-Beamter von einem Tatverdächtigen angeschossen und verletzt. Nach Angaben des Generalbundesanwalts wird gegen den mutmaßlichen Täter wegen mehrfachen versuchten Mordes sowie gefährlicher Körperverletzung ermittelt. Die SEK-Beamten hatten sich durch mehrfaches lautes Rufen als Polizisten zu erkennen gegeben, der Tatverdächtige richtete in seinem Wohnzimmer eine großkalibrige Schusswaffe auf die Beamten, folgte nicht der wiederholten Aufforderung, die Waffe wegzulegen und es kam zu einem Schusswechsel zwischen den Einsatzkräften und dem Beschuldigten.13
Zugriffe auf gewaltbereite „Reichsbürger“ am 7.12.2022
Am 7.12.2022 kam es in elf Bundesländern in Deutschland zu 150 Razzien von ca. 3.000 Polizeibeamten gegen eine gewaltbereite „Reichsbürger“-Gruppe, dabei wurden 25 Personen festgenommen. Diese hatten nach Angaben des Generalbundesanwalts eine terroristische Vereinigung gebildet, um die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen und einen Staat nach Vorbild des Deutschen Reichs von 1871 zu errichten. Nach Angaben des Präsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), Thomas Haldenwang, hatten die Verfassungsschutzbehörden diese „Reichsbürger“-Gruppierung und ihre Umsturzplanungen bereits seit dem Frühjahr 2022 auf dem Schirm. Deren Planungen seien im Laufe des Jahres immer konkreter sowie Waffen beschafft worden. Das BfV arbeitete eng mit dem Generalbundesanwalt und den Polizeibehörden zusammen und „die deutschen Sicherheitsbehörden insgesamt hatten die Lage jederzeit unter Kontrolle“, so Haldenwang am Tag der polizeilichen Zugriffe.14
Sitz des Generalbundesanwalts beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe
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Diese „Reichsbürger“-Gruppe steht nach Angaben der Bundesanwaltschaft im Verdacht, eine terroristische Vereinigung gebildet zu haben, die mit Waffengewalt eine neue Regierung installieren wollte und auch Tote in Kauf genommen hätte. Sie soll geplant haben, den Bundestag zu stürmen, die Bundesregierung abzusetzen, durch Anschläge auf die Stromversorgung bürgerkriegsähnliche Zustände herbeizuführen, um dann die Macht zu übernehmen. Hierfür sollen bereits Mitglieder für Ministerposten ausgesucht worden sein.15
Die von den deutschen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden als extremistisch eingestuften „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ lehnen die Bundesrepublik Deutschland, ihre Rechtsordnung und ihre Beamten ab und definieren sich als außerhalb der deutschen Rechtsordnung stehend und legitimieren auf diese Weise Verstöße und Straftaten. Das Auftreten von „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ gegenüber Amtsträgern staatlicher Institutionen ist häufig durch eine starke verbale Aggression gekennzeichnet.
Eine zentrale Figur dieser Organisation und ihrer Umsturzpläne soll Heinrich XIII. Prinz Reuß sein, der beim „Worldwebforum“ in der Schweiz 2019 als Redner erklärt hatte, die Bundesrepublik Deutschland sei kein souveräner Staat, sondern nach wie vor von den Alliierten kontrolliert und die BRD und ihre Justiz seien „Firmen“. Reuß ist als Finanzberater in Frankfurt am Main tätig und besitzt ein Jagdschloss in Thüringen, wo sich Mitglieder der Gruppe wiederholt getroffen haben sollen.16
Die Verfassungsschutz- und Polizeibehörden bewerteten diese „Reichsbürger“-Gruppierung auch deswegen für hoch gefährlich, weil auch aktive und ehemalige Bundeswehr-Soldaten zu den Beschuldigten gehören. Intern wurde von einem „bewaffneten Arm“ gesprochen und dem Plan, Heimatschutzkompanien aufzubauen. Zu den Beschuldigten soll Rüdiger von P. gehören, Anfang der 1990er-Jahre Kommandeur eines Fallschirmjägerbataillons. Er war aus der Bundeswehr entlassen worden, weil er Waffen aus Beständen der NVA veruntreut oder verkauft hatte. Ein weiteres Mitglied der Gruppe, Marco v. H., ein vorbestrafter, ehemaliger Zeitsoldat und ehemals Soldat militärischer Spezialkräfte soll ebenso wie v.P. in der Corona-Protestbewegung in Pforzheim aktiv gewesen sein und dort für die „Reichsbürger“-Gruppe rekrutiert haben. Diese habe beabsichtigt, auch aktive Soldaten aus der Bundeswehr zu rekrutieren, dies scheinbar mit Erfolg.17
Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) führte zu den Zugriffen aus: „Das war ein sehr, sehr großer Schlag und es ist gut und richtig, dass Demokratie so wehrhaft ist“. Was die Gruppierung so gefährlich mache, sei, „dass es einen militärischen Arm davon gab. Mit Menschen, die früher in der Bundeswehr waren, also auch mit Waffen umgehen können“. Bei Behörden, die mit Waffen zu tun haben, etwa bei Bundeswehr oder Bundespolizei, müsse man „noch mal genauer hingucken“, so die Bundesinnenministerin. Wer Umsturzfantasien habe und die demokratische Grundordnung überwinden wolle, der habe nichts mehr im öffentlichen Dienst zu suchen, sagte Faeser weiter. Faeser arbeite gerade daran, das Disziplinarrecht zu verändern, „damit wir solche Verfassungsfeinde schneller loswerden“.18
Verschiedene mutmaßliche Mitglieder dieser Organisation spielten in der Vergangenheit eine Rolle in der „Querdenker“-Szene (verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates). Beispielsweise der ehemalige Oberst der Bundeswehr, Maximilian E. Bei einer Corona-Protestveranstaltung sprach dieser sich öffentlich dafür aus, das Kommando Spezialkräfte nach Berlin zu schicken, um dort „ordentlich aufzuräumen“. E. war in seiner aktiven Zeit bei der Bundeswehr unter anderem im Kommando Spezialkräfte eingesetzt. Im Sommer 2021 engagierte er sich beim Ahrtal-Hochwasser mit einer Gruppe von ehemaligen Soldaten der Bundeswehr, trug dabei Uniform, verfasste „Befehle“ und richtete in einer Schule eine Art „Kommandozentrale“ ein, obwohl er längst aus der Bundeswehr ausgeschieden und kein Soldat mehr war. Der ehemalige Polizeibeamte Michael F. ist mutmaßlich ein weiteres Mitglied der „Querdenker“-Szene, der bei einer Corona-Demonstration den Hitlergruß gezeigt haben soll. Außerdem wird der ehemalige Polizist F. dem „Reichsbürger“-Spektrum zugerechnet, weshalb er im Jahr 2022 aus dem Polizeidienst des Landes Niedersachsen entlassen worden war.19
Delegitimierer – Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates
Das Bundesamt für Verfassungsschutz definiert den neuen Extremismusphänomenbereich „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates – Delegitimierer“ wie folgt:
„Verschiedene Akteure instrumentalisieren das Protestgeschehen gegen Corona-Schutzmaßnahmen, um losgelöst von jeder sachbezogenen Kritik eine tatsächlich verfassungsfeindliche Agenda zu verfolgen. Dies äußert sich u.a. in einer aggressiven Agitation gegen Repräsentanten und Institutionen des Staates, um dessen Legitimität systematisch zu untergraben. Mit Beginn der Corona-Pandemie und der Durchsetzung staatlicher Beschränkungsmaßnahmen zu ihrer Bekämpfung kam es in Deutschland zu einer breiten gesellschaftspolitischen Debatte und legitimen Protestaktionen. In einigen Fällen gingen öffentlich geäußerte Meinungen oder Aktionen jedoch über einen solchen legitimen Protest hinaus und überschritten auf diese Weise die Grenze zu tatsächlichen Anhaltspunkten für verfassungsfeindliche Bestrebungen. Die diesem Phänomenbereich zugeordneten Akteure zielen darauf ab, das Vertrauen in das staatliche System zu erschüttern und dessen Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen. Dies versuchen sie zu erreichen, indem sie unter anderem demokratisch gewählte Repräsentanten des Staates verächtlich machen, staatlichen Institutionen und ihren Vertretern die Legitimität absprechen, zum Ignorieren gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen aufrufen, staatliche oder öffentliche Institutionen (z.B. der Gesundheitsfürsorge) mittels Sachbeschädigungen sabotieren oder zu Widerstandshandlungen gegen die staatliche Ordnung aufrufen. Diese Verhaltensweisen stehen im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratie- oder dem Rechtsstaatsprinzip“. 20
Die deutschen Verfassungsschutzbehörden beschreiben des Extremismusphänomen „Delegitimierer“ damit, dass einzelne Protagonisten der „Querdenken“-Bewegung (Delegitimierer) im Kontext von Corona-Protesten sowie über soziale Medien mittelbar zum Umsturz der bestehenden politischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland aufgerufen haben, von „Delegitimierern“ immer wieder bewusst Analogien zu Diktaturen, unter anderem zum Nationalsozialismus, hergestellt werden, um der Bundesregierung, den Landesregierungen sowie der Exekutive die Legitimität abzusprechen. Darüber hinaus relativieren „Delegitimierer“ nationalsozialistische Verbrechen, indem die staatliche Corona-Impfkampagne mit der Verfolgung der Juden gleichgesetzt wird. Weiter machen sie die deutsche Volkssouveränität agitatorisch verächtlich, rufen zu Gewalt gegenüber Politikerinnen und Politikern, gewählten Volksvertreterinnen und Volksvertretern – online und realweltlich – auf und sprechen der Bundesrepublik Deutschland gezielt die Eigenschaft ab, ein Rechtsstaat zu sein. Weitere Merkmale dieses Extremismusbereiches bestehen darin, dass „Delegitimierer“ rhetorisch und körperlich aggressiv mit Medienvertretern, Polizeibeamten und anderen Mitarbeitern der Verwaltung umgehen, antisemitische Verschwörungserzählungen verbreiten und zur Ausübung von Gewalt gegen Andersdenkende aufrufen.21
Protest gegen die Corona-Schutzmaßnahmen (re.) und Gegenprotest (li.) am 1. August 2020 in Berlin.
© Leonhard Lenz - Eigenes Werk, CC0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=93767192
Das Gewaltpotenzial militanter „Delegitimierer“
Im neuen Extremismusbereich beschreiben die Verfassungsschutzbehörden es als besonders auffällig, dass dort im Jahr 2021 das „Feindbild Polizei“ sehr stark intensiviert wurde. Während am Anfang der Pandemie 2020 vor allem Politiker und Wissenschaftler im Fokus waren, würden seit spätestens 2021 polizeiliche Einsatzkräfte zunehmend angefeindet und diffamiert. Hier analysiert das BfV, dass Herabsetzungen solcher Art dazu dienen, Gewalt gegen Polizeibeamte als „Widerstandsakt zu legitimieren“ und die Hemmschwelle für Gewalt gegen die Polizei sukzessive herabzusenken. Einerseits geschehe dies durch plumpe Schmähungen, andererseits durch die Herabsetzung der Polizei als Vollzugsorgan einer vermeintlichen „Corona-Diktatur“.22 Das Konzept der „Delegitimierer“, „Widerstand gegen eine angebliche Diktatur“ zu leisten, ist potenziell (sehr) gefährlich, weil Widerstand als „legitime Notwehrhandlung gegen den Staat und seine Unterstützer“ dargestellt wird. Wenn zum „Widerstand gegen vermeintliches Unrecht“ aufgerufen wird, besteht hier eine potenziell große Gefahr, da es dann zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommen kann, was Radikalisierungsverläufe anstoßen oder verstärken kann.
Mario N. ermordete am 18.9.2021 einen jungen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein, der ihn zum gesetzlich angeordneten Tragen Corona-Mund-Nasen-Schutz aufgefordert hatte. Der Täter wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und er wurde in der militanten „Querdenker-Szene“ (Delegitimierer) verortet. Die Erste Große Strafkammer des Landgerichts Bad Kreuznach wertete den tödlichen Schuss als Mord, Mario N. habe die Tat heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen begangen und seiner Tat habe ein politisches Motiv zugrunde gelegen. Der Staat habe aus Sicht von Mario N. mit der Maskenpflicht Grenzen überschritten. Da er jedoch nicht an Verantwortliche wie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel oder den damaligen Gesundheitsminister Jens Spahn herangekommen sei, habe er den jungen Tankstellenmitarbeiter stellvertretend getötet.23
In Bezug auf den Mann, der am 11.5.2023, mit einer Explosion neun Einsatzkräfte schwer verletzt hat, sprach die Polizei Nordrhein-Westfalen kurz nach der Festnahme davon, dass Hinweise darauf, dass der 57-Jährige zur „Corona-Leugner-Szene“ („Delegitimierer“) angehöre. Inwieweit und ob dies mit der Tat in Verbindung steht, sei noch nicht geklärt. Außerdem soll der Mann der sogenannten Prepper-Szene angehören.24
Fazit
Jeder Radikalisierungsverlauf ist ein anderer, die Radikalisierungsfaktoren Ideologieelemente, Milieu, Internetinhalte sowie sozio-ökonomische Faktoren müssen von den Sicherheitsbehörden und der sicherheitspolitischen Forschung koordiniert, gemeinsam analysiert werden. Gerade in den Sozialen Netzwerken gibt es fließende Übergänge von enthemmter Sprache und extremistischen Narrativen verbunden mit Freund-Feind-Bildern und „Todeslisten“. Hier wäre eine intensive Kooperation von Sicherheitsbehörden und Wissenschaft notwendig und diese sollte von der Politik und den Behördenleitungen intensiviert und stark gefördert werden. Ziel muss auch im Sinne einer präventiven Wirkung die umfassende und konsequente Verfolgung von Straftaten sein.
Strategisch, perspektivisch gedacht muss für die Strafverfolgungsbehörden ebenso wie für die Verfassungsschutzbehörden konstatiert werden, dass durch die technischen Möglichkeiten der Sozialen Netzwerke und durch verschlüsselte Messengerdienste die Potenziale für Radikalisierungsverläufe in den Extremismusbereichen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie „Delegitimierer“, das Werben neuer Sympathisanten und Mitglieder sowie eine (klandestine) Vernetzung bzw. Bildung neuer Netzwerke, Organisationen und Gruppierungen deutlich gestiegen sind, was für die deutschen Sicherheitsbehörden eine große Herausforderung darstellt.25
Quellen:
1 Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/reichsbuerger-und-selbstverwalter/begriff-und-erscheinungsformen/2021-begriff-und-erscheinungsformen_artikel.html (20.5.2023); Goertz, S. (2022): Extremismus und Sicherheitspolitik. Studienkurs für die Polizei und Verfassungsschutzbehörden, S. 41-42.
2 Vgl. Goertz, S. (2022): Extremismus und Sicherheitspolitik. Studienkurs für die Polizei und Verfassungsschutzbehörden, S. 41-42; Goertz, S. (2023): Das Gefahrenpotenzial militanter „Reichsbüger“ und „Selbstverwalter“, Rechtsextremisten und „Delegitimierer“. In: Kriminalistik 4/2023, S. 220-221.
3 https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/reichsbuerger-und-selbstverwalter/zahlen-und-fakten/zahlen-und-fakten_node.html (20.5.2023).
4 Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/publikationen/DE/reichsbuerger-und-selbstverwalter/2018-12-reichsbuerger-und-selbstverwalter-staatsfeinde-geschaeftemacher-verschwoerungstheoretiker.pdf?__blob=publicationFile&v=9, S. 25 (20.5.2023).
5 Vgl. Goertz 2023, S. 222.
6 Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/de/aktuelles/schlaglicht/schlaglicht-2020-02-protestgeschehen (21.2.2021).
7 Vgl. https://www.nordbayern.de/region/roth/bgh-bestatigt-lebenslange-haft-gegen-reichsburger-wolfgang-p-1.8670679 (20.5.2023).
8 Vgl. Goertz, S. (2022): Extremismus und Sicherheitspolitik. Studienkurs für die Polizei und die Verfassungsschutzbehörden, S. 137.
9 Vgl. Goertz 2023, S. 220.
10 Homepage „BRD-Schwindel“, 26.8.2016, zitiert nach: Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (Hrsg.): Verfassungsschutzbericht 2016, Berlin, Juni 2017, S. 95-96.
11 Vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/anklage-gegen-mutmasslichen-reichsbuerger-von-boxberg-erhoben-18610784.html (20.5.2023).,
12 Vgl. https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/suedbaden/zehn-jahre-haft-prozess-reichsbuerger-loerrach-olg-stuttgart-100.html (20.5.2023).
13 Vgl. https://www.heidelberg24.de/baden-wuerttemberg/reichsbuerger-razzia-reutlingen-schuss-mann-festnahme-sek-bw-polizei-mord-zr-92162616.html (20.5.2023).
14 https://www.spiegel.de/politik/deutschland/terrorrazzia-thomas-haldenwang-fuer-check-bei-arbeit-in-sicherheitsbehoerden-a-05e9fdc8-b6a8-4223-abf8-3d9210d44ddf (20.5.2023).
15 Vgl. https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/ost-thueringen/saale-orla/razzia-umsturz-verschwoerung-reuss-100.html (20.5.2023).
16 Vgl. https://www.focus.de/panorama/welt/reichsbuerger-heinrich-xiii-prinz-reuss-dieser-mann-sollte-nach-umsturz-das-staatsoberhaupt-von-deutschland-werden_id_180437793.html (20.5.2023).
17 Vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/razzia-reichsbuerger-staatsstreich-101.html (20.5.2023).
18 Vgl. https://www.daserste.de/information/talk/maischberger/faktencheck/faktencheck-maischberger-228.html (20.5.2023).
19 Vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/razzia-reichsbuerger-staatsstreich-101.html (20.5.2023).
20 https://www.verfassungsschutz.de/DE/themen/verfassungsschutzrelevante-delegitimierung-des-staates/begriff-und-erscheinungsformen/begriff-und-erscheinungsformen_artikel.html (20.5.2023).
21 Vgl. Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (2021): Sonderbericht zu Verschwörungsmythen und „Corona-Leugnern“. Düsseldorf, Mai 2021.
22 Vgl. Bundesministerium des Innern und für Heimat (2022): Verfassungsschutzbericht 2021, S. 116-117.
23 Vgl. https://rp-online.de/panorama/deutschland/trierer-experte-querdenker-mit-schuld-an-tat-von-idar-oberstein_aid-62899853 (20.5.2023).
24 Vgl. https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ratingen-explosion-hochhaus-100.html (20.5.2023).
25 Vgl. Goertz 2023, S. 225-226.