Politisch motivierte Kriminalität in Deutschland – Aktuelle Trends und Akteure
Rechtsextremismus, Rechtsterrorismus, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie „Querdenker“
Teil 1 von Prof. Dr. Stefan Goertz, Hochschule des Bundes, Bundespolizei
Dieser Beitrag untersucht aktuelle Trends und Akteure in den PMK-Phänomenbereichen Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus, „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ sowie „Querdenker“. Sowohl Rechtsextremisten als auch „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ haben innerhalb kürzester Zeit strategisch sowie propagandistisch auf die Coronapandemie reagiert und versuchten, die Coronapolitik der Bundesregierung zu delegitimieren. Dazu entstand ein neuer Phänomenbereich von PMK/Extremismus: Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates.
Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus
Rechtsextremisten haben nach Angaben des aktuellen Verfassungsschutzberichtes aus dem Juni 2021 im Jahr 2020 in Deutschland 23.604 Straftaten verübt, im Jahr 2019 waren es noch 22.342 Straftaten. Von diesen 23.694 im Jahr 2020 verübten Straftaten waren 13.659 Propagandadelikte nach §§ 86, 86a StGB und 1.092 Gewalttaten. Im Jahr 2019 waren noch 986 Gewalttaten von Rechtsextremisten verübt worden, womit die Zahl der Gewalttaten im Vergleich zum vorherigen Jahr um gut 10 % angestiegen ist. Neben zwei versuchten Tötungsdelikten zählt hierzu mit dem rechtsterroristischen Anschlag in Hanau ein vollendetes Tötungsdelikt mit neun Todesopfern.
Im Jahr 2020, dem Berichtsjahr des aktuellen Verfassungsschutzberichtes von 2021, verübten Rechtsextremisten in Deutschland 842 Körperverletzungen, 25 Brandstiftungen, daneben 12 gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Luft-, Schiffs- und Straßenverkehr, eine Freiheitsberaubung, 12 Erpressungen und 101 Widerstandsdelikte. Sachbeschädigungen wurden durch Rechtsextremisten in Deutschland im Jahr 2020 880 verübt, Nötigungen/Bedrohungen 478, Störung der Totenruhe sechs sowie 6.545 andere Straftaten, vor allem Volksverhetzung und Beleidigung.
Im Jahr 2020 stieg die Zahl rechtsextremistischer fremdenfeindlicher Gewalttaten mit 746 Delikten um 7,3 % an. Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten mit antisemitischem Hintergrund erhöhte sich um 17,8 % auf insgesamt 2.173 Taten (im Jahr 2019 waren es noch 1.844). Im Jahr 2020 stieg die Anzahl der rechtsextremistisch motivierten Körperverletzungen mit fremdenfeindlichem Hintergrund um 10 %.
Die – in absoluten Zahlen – meisten rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten ereigneten sich mit 168 registrierten Delikten in Berlin. Danach folgen Nordrhein-Westfalen (145) und Sachsen-Anhalt (83).1
Die deutschen Verfassungsschutzbehörden beziffern das Personenpotenzial Rechtsextremismus für das Jahr 2020 – im aktuellen Verfassungsschutzbericht aus dem Juni 2021 – mit 33.300. Davon werden 13.300 als gewaltorientiert eingestuft. Von diesen 33.300 Rechtsextremisten sind nach Angaben der Verfassungsschutzbehörden 13.250 in Parteien organisiert, hierbei 3.500 in der Partei „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NPD), 550 in der Partei „Die RECHTE“ und 600 in der Partei „Der III. Weg“. In der Kategorie „sonstiges rechtsextremistisches Personenpotenzial in Parteien“ existieren laut den deutschen Verfassungsschutzbehörden aktuell 8.600, darunter werden nach Angaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz u.a. die Mitglieder der „Jungen Alternative“ (JA) und des Personenzusammenschlusses „Der Flügel“ subsummiert.
In „parteiunabhängigen bzw. parteiungebundenen Strukturen“ zählen die deutschen Verfassungsschutzbehörden aktuell 7.800 Rechtsextremisten, in der Kategorie „weitgehend unstrukturiertes rechtsextremistisches Personenpotenzial“ 13.700 Rechtsextremisten.2
Aktuelle Trends
Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus stellen im Augenblick und prognostisch für viele Jahre eine wesentliche Bedrohung für die Innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland dar. Aktuelle Belege dafür sind die rechtsterroristischen Anschläge in Hanau und Halle, das rechtsterroristische Attentat auf Walter Lübcke, das rechtsterroristische Attentat auf die damalige Kölner Oberbürgermeisterkandidatin Henriette Reker, der Anschlag am Olympia-Einkaufszentrum in München, sowie das rechtsterroristische Attentat auf den eritreischen Flüchtling Bilal M.
Neben diesen rechtsterroristisch motivierten Anschlägen und Attentaten müssen auch die zahlreichen rechtsextremistisch-rechtsterroristischen Organisationen bzw. Gruppen, wie „Weisse Wölfe Terrorcrew“ (WWT), „Oldschool Society“ (OSS), „Nordadler“, „Kameradschaft Aryans“, „Gruppe Freital“, „Revolution Chemnitz“, „Combat 18“, Gruppe „Nordkreuz“ sowie „Gruppe S“ der jüngeren Vergangenheit erwähnt werden.3
Rechtsterrorismus ist der nachhaltig-strategische Kampf für rechtsextremistische Ziele. Diese Ziele sollen mithilfe von Anschlägen auf Leib, Leben und Eigentum anderer durchgesetzt werden. Die Übergänge von Rechtsextremismus zu Rechtsterrorismus können fließend sein. Ziele bzw. Opfer von Rechtsterroristen können u.a. Ausländer, Asylbewerber, Menschen mit Migrationshintergrund, Juden, Muslime, Politiker, Polizisten, Beamte und Repräsentanten des Staates sein, ebenso Mitglieder von Parteien, die von Rechtsterroristen als Gegner bzw. Feinde empfunden werden.
Das Bundesamt für Verfassungsschutz stellt im aktuellen Verfassungsschutzbericht fest, dass im Zusammenhang mit dem Protestgeschehen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen der Bundesregierung die versuchte Einflussnahme von Rechtsextremisten im Jahr 2020 in der Öffentlichkeit präsent war. So versuchten Rechtsextremisten seit Ende April 2020, mit Kundgebungen und Demonstrationen Aufmerksamkeit zu erlangen und an die gesellschaftlichen Diskussionsprozesse anzuknüpfen. Rechtsextremisten nahmen die gesellschaftliche Corona-Debatte auf und thematisierten fast ausschließlich die staatlichen Schutzmaßnahmen. Zudem wurden Verschwörungsideologien zum Pandemiegeschehen verbreitet. Laut Bundesamt für Verfassungsschutz versuchten Rechtsextremisten, über das Protestgeschehen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen Anschluss an die weit überwiegend demokratischen Proteste zu finden. Hierbei ging es Rechtsextremisten jedoch nicht um eine sachliche Debatte über den Umgang mit der Pandemie, sondern um die Delegitimierung staatlichen Handelns und demokratischer Institutionen.4
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ verübten im Jahr 2020 772 (im Jahr 2019 noch 675) politisch motivierte Straftaten, davon 125 Gewalttaten (im Jahr 2019 noch 121). Hierzu zählten vor allem Erpressungs- (78) und Widerstandsdelikte (30). Von den „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ zugeordneten Straftaten wurden 37 als antisemitisch eingeordnet, bei welchen es sich im Wesentlichen um Volksverhetzungsdelikte (30), aber auch um eine Gewalttat handelte. Die – in absoluten Zahlen – meisten extremistischen Straftaten begingen „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ in Bayern (243, darunter 72 Gewalttaten und 74 Fälle von Nötigung beziehungsweise Bedrohung).5
Die Verfassungsschutzbehörden stufen diese Szene insgesamt als staatsfeindlich ein. Aktuell sind ihr deutschlandweit etwa 20.000 Personen (im Jahr 2019 noch 19.000) zuzurechnen, bei rund 1.000 davon handelt es sich zugleich um Rechtsextremisten. Von diesen 20.000 Personen werden ca. 2.000 als gewaltorientiert bewertet. Darunter fallen gewalttätige Szeneangehörige sowie Personen, die beispielsweise durch Drohungen oder gewaltbefürwortende Äußerungen und entsprechende ideologische Bezüge auffallen. Die Szene der „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ besteht zu etwa drei Vierteln aus Männern. Bundesweit gibt es rund 28 Gruppierungen, unter anderem den „Staatenbund Deutsches Reich“ mit „Gliedstaaten“, „Bismarcks Erben“ mit der Untergliederung „Vaterländischer Hilfsdienst“ (VHD) und die „Verfassunggebende Versammlung“.6
Aktuelle Trends
„Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ bewerten staatliche Maßnahmen – damit auch diejenigen zur Eindämmung der Corona-Pandemie – als unrechtmäßig und lehnen sie vehement ab. Besonders häufig thematisierte die dem Phänomenbereich „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ zuzuordnende Gruppierung „Verfassunggebende Versammlung“ (VV) die Coronapandemie und verbreitete vor allem über ihre Internetplattform „ddbnews“ sowie das „ddbradio“ im Jahr 2020 laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz immer wieder Desinformation und Verschwörungsideologien. So brachte die Gruppierung „Verfassunggebende Versammlung“ die Corona-Pandemie zum Beispiel mit der antisemitisch geprägten Verschwörungstheorie einer „Neuen Weltordnung“ (NWO) in Verbindung. Das Bundesamt für Verfassungsschutz analysiert, dass die Corona-Pandemie für „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ als Gegner des Staates eine neue, motivierende Erfahrung darstellt, da andere Kritiker der Corona-Maßnahmen die „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ bei öffentlichkeitswirksamen Aktionen „nicht ausgrenzen, sondern gemeinsam mit ihnen protestieren“.7 Die deutschen Verfassungsschutzbehörden stellen fest, dass sich „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ im Jahr 2020 teilweise nicht mehr darauf beschränkt haben, im Zusammenhang mit „Hygiene-Demonstrationen“ ihren Protest zu äußern, sondern auch körperliche Gewalt angewendet haben, zum Beispiel gegen eingesetzte Polizeikräfte. Beispielsweise beteiligten sich „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ am Demonstrationsgeschehen gegen die Corona-Maßnahmen vom 28. bis 30. August 2020 im Umfeld des Reichstagsgebäudes in Berlin. Dabei kam es im Zuge einer Kundgebung am Reichstagsgebäude (Deutscher Bundestag) zu einer Besetzung der Stufen des Parlamentsgebäudes durch mehrere hundert Personen, darunter auch Angehörige der „Reichsbürger“-Szene. Eine mutmaßliche „Reichsbürgerin“ hatte nach Angaben der deutschen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden in einem Redebeitrag auf einer Bühne von „staatenlos.info“ unmittelbar zuvor zu einer Besetzung der Stufen des Parlamentsgebäudes aufgerufen. Bei „staatenlos.info“ handelt es sich um eine „Reichsbürger“-Vereinigung.
Verschiedene bekannte „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“-Gruppierungen beteiligten sich im Jahr 2020 an den Anti-Corona-Demonstrationen. Neben „staatenlos.info“ sind dabei auch Personen aus der „Verfassunggebenden Versammlung“ in Erscheinung getreten. Auch aus dem Milieu derjenigen, die für eine Rückkehr zum Deutschen Kaiserreich eintreten, kam es zu Mobilisierungen für die Proteste. Teilweise erklärten „Reichsbürger“ und „Selbstverwalter“ staatliche Verordnungen schlichtweg für ungültig. So veröffentlichte beispielsweise die Gruppierung „Amt für Menschenrecht“ am 11. Juni 2020 eine „Rechtdurchsetzung“, der zufolge alle „Ausnahmetatbestände der biologischen und psychologischen Kriegsführung im ‚Lockdown‘“ aufgehoben seien. Weiter wurde in einem „Öffentliche[n] Aufruf zu rechtewahrendem Miteinander“ der Gruppierung „Bundesstaat Sachsen“ die Sächsische Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 fälschlicherweise als nicht rechtskräftig bezeichnet, da „sie nicht unterschrieben [sei] und somit lediglich einen Entwurf“ darstelle. In diesem Zusammenhang stellt das Bundesamt für Verfassungsschutz fest, dass bei „Reichsbürgern“ und „Selbstverwaltern“ eine hohe Anschlussfähigkeit im Hinblick auf die zahlreichen Verschwörungsnarrative rund um die Corona-Pandemie besteht, was sich in häufigen Thematisierungen einschlägiger Inhalte durch die Szene äußert.8
Neuer Phänomenbereich von PMK: Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates („Querdenker“)
In Bezug auf „Corona-Proteste“, Corona-Kleinkundgebungen, „Corona-Spaziergänge“ sowie Versammlungen stellte das Bundesamt für Verfassungsschutz vor dem medial so bezeichneten „Sturm auf den Reichstag“ Ende August 2020 fest, dass das Teilnehmerfeld bis dahin „äußerst heterogen, in seinem Kern jedoch demokratisch“ war.9 Allerdings konstatierten die deutschen Verfassungsschutzbehörden schon vor diesem „Sturm auf den Reichstag“, dass ab dem Frühjahr 2020 „mehrere rechtsextremistische Protagonisten“ dazu aufgerufen hatten, „sich an den Demonstrationen gegen die Beschränkungsmaßnahmen organisationsübergreifend zu beteiligen und bei Kundgebungen außerhalb des rechtsextremistischen Spektrums Präsenz in der Öffentlichkeit zu zeigen“.10
Die Bundesregierung hatte im Juli 2020 in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Bundestag erklärt, dass die Corona-Kundgebungen, „Spaziergänge“ und Versammlungen im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie in der großen Mehrzahl von nichtextremistischen Akteuren organisiert und frequentiert würden. Die Heterogenität des Protestmilieus zeige sich insbesondere bei den „Hygienedemos“, die zunächst in Berlin initiiert wurden und später auch Widerhall in anderen größeren Städten erfahren haben. Sie zögen diffus regierungskritisch motivierte Teilnehmer aus verschiedenen politischen Lagern an, die gegen die geltenden Infektionsschutzmaßnahmen und gegen eine vermeintlich ungerechtfertigte Einschränkung von Grundrechten demonstrieren. Weiter führte die Bundesregierung aus, dass sich die große Mehrheit der Teilnehmer an den Demonstrationen im Zusammenhang mit den staatlichen Corona-Beschränkungen aus einem überaus heterogenen, teils regierungskritischen bis systemablehnenden Milieu zusammensetzen. Bei einem Teil von Versammlungen habe sich im Frühjahr 2020 eine Mischung aus Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern bis hin zu bisher unpolitischen Personen etabliert.11
Im Rahmen der Corona-Großkundgebung „Berlin invites Europe – Fest für Freiheit und Frieden“ versammelten sich nach Angaben der deutschen Sicherheitsbehörden bis zu 40.000 Personen in Berlin-Mitte. Nach der Versammlung einer „Reichsbürger“-Gruppierung auf der Wiese vor dem Reichstag stießen mehrere Hundert Versammlungsteilnehmer die im Bereich der Reichstagswiese aufgestellten Absperrgitter um, liefen zu den Treppenaufgängen des Reichstages und besetzten diese. Dabei schwenkten Versammlungsteilnehmer schwarz-weiß-rote Fahnen (offizielle Nationalflagge des Deutschen Reiches). Zwischenzeitlich befanden sich bis zu 400 Personen auf der Außentreppe des Bundestagsgebäudes. Bei dieser Aktion kam es zu verbalen Anfeindungen gegen Polizeibeamte und zu körperlichen Übergriffen. Dieser medial als „Sturm auf den Reichstag“12 titulierten Aktion war nach Angaben der deutschen Sicherheitsbehörden ein Redebeitrag einer Frau auf der Bühne einer „Reichsbürger“-Gruppierung vorausgegangen, der das Ereignis offenbar herbeiführte.13
Nach Polizeiangaben vom 30.8.2020 wurden im Rahmen dieser Aktionen 33 Polizeibeamte verletzt, 316 Personen festgenommen sowie 131 Strafanzeigen gestellt, unter anderem wegen Beleidigung, tätlichem Angriff auf Polizeibeamte, Gefangenenbefreiung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte sowie Körperverletzung. Insgesamt wurden ebenso 255 Anzeigen wegen Ordnungswidrigkeitsverstößen aufgenommen.14
Im Rahmen der Beobachtung der Organisationsstrukturen von „Querdenken“ als Verdachtsfall Extremismus erklären die Verfassungsschutzbehörden, dass ihre Aufgabe darin besteht, Bestrebungen, die gegen die Sicherheit des Bundes oder der Länder oder gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtet sind, zu identifizieren und aufzuklären. Im Zuge dessen nehmen die Verfassungsschutzbehörden der Bundesländer und das Bundesamt für Verfassungsschutz Phänomene, Gruppierungen und Einzelpersonen in den Blick, bei denen tatsächliche Anhaltspunkte dafür sprechen, dass ihre Verhaltensweisen darauf gerichtet sind, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen.15
Das Bundesministerium des Innern und die deutschen Verfassungsschutzbehörden stellen aktuell fest, dass sich die Freiheitliche demokratische Grundordnung (FdGO) sowie staatliche Einrichtungen wie Parlamente und Regierende seit Beginn der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 vielfältigen Angriffen ausgesetzt sehen. Demokratische Entscheidungsprozesse und die entsprechenden Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative werden in sicherheitsgefährdender Art und Weise von „Querdenkern“ delegitimiert und verächtlich gemacht. Verschwörungsmythen wie QAnon oder andere antisemitische Ressentiments werden dabei ebenso genutzt, wie weitere aus rechtsextremistischen oder „Reichsbürger“- und „Selbstverwalter“-Zusammenhängen bekannte Ideologieelemente. Verschwörungstheorien sind dabei ein durchgängig festzustellendes Phänomen und haben eine erhebliche katalysatorische Wirkung.16
Die baden-württembergische Verfassungsschutzpräsidentin Bube gab im Zuge der öffentlichen Erklärung der Erhebung von „Querdenken 711“ zum „Beobachtungsobjekt Extremismus“ am 9.12.2021 an, dass der „legitime Protest gegen staatliche Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie einer grundsätzlichen Staats- und Politikfeindlichkeit in bedenklichem Ausmaß“ weiche. „Seit Beginn des Protestgeschehens stellen wir bei den zentralen Akteuren der ‚Querdenker‘ eine zunehmende Diffamierung staatlichen Handelns fest, die immer wieder in abwegigen Vergleichen mit der Diktatur des Nationalsozialismus und einer Verharmlosung des Holocaust gipfelt. Sie schüren mit falschen Behauptungen gezielt Hass auf den Staat – das ist demokratiefeindlich“, erklärte der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl.17
Auf Telegram wurde der Tankstellenmord in Idar-Oberstein, am 18.9.2021, von verschiedenen Extremisten teilweise verherrlicht. „Kein Mitleid. Die Leute immer mit dem Maskenscheiß nerven. Da dreht irgendwann mal einer durch. Gut so“, hieß es unter anderem.18 Der Politikwissenschaftler Josef Holnburger stellte fest: „Seit Jahren plant das verschwörungsideologische Milieu ,Tribunale‘. Plant den ,Tag X‘. Führt Todeslisten ,für später‘. Spricht von Nürnberg 2.0. Sehnt sich einen Bürgerkrieg herbei. Nicht ,im Internet‘. Sondern unter uns. Jetzt wurde ein Mensch ermordet. In ,der Realität‘.“ Weiter erklärt Holnburger, dass Querdenker immer wieder von „Nürnberg 2.0“, dem „Tag X“ oder „den Tagen danach“ sprächen. „Damit fachen sie Rachephantasien ihrer Anhänger an.“ Rufe nach Tribunalen und insbesondere Nürnberg 2.0 seien auch immer verdeckte Rufe nach der ultimativen Bestrafung der in ihren Augen „Schuldigen“: „Es sind Rufe nach Exekutionen“.19 Aus Sicht des Thüringer Verfassungsschutzpräsidenten Stephan Kramer kam der Mord in Idar-Oberstein nicht überraschend. „Der kaltblütige Mord ist furchtbar, aber für mich keine Überraschung angesichts der steten Eskalation der letzten Wochen“, sagte Kramer. „Bedauerlich ist, dass es immer erst Tote geben muss, bevor die Gefahr ernst genommen wird“20. Jedoch wird erst der Gerichtsprozess die genauen Hintergründe des Mordes in der Tankstelle in Idar-Oberstein sowie den Radikalisierungshintergrund des Täters aufklären.
Mediale Hetze, Beleidigungen, enthemmte Sprache, Hasspostings und andere Arten von Herabwürdigungen von Menschen können nach Angaben der Bundesregierung vor allem im Internet und dort auf allen bekannten sozialen Plattformen, Imageboards und Messengerdiensten festgestellt werden. Die Postings werden sowohl offen, also bisweilen auch unter Klarpersonalien der handelnden Personen, als auch anonym veröffentlicht. Aufgrund der strenger gewordenen Handlungsrichtlinien von Plattformen wie z. B. Facebook, Twitter, YouTube und Instagram und deren Löschungsverhalten ist eine Abwanderung hin zu Plattformen und Messengerdiensten mit weniger ausgeprägtem bis gar keinem Löschungsverhalten erkennbar. Hierzu zählen z. B. Telegram, Bitchute und VKontakte sowie Imageboards wie Kohlchan und 4chan. Das Spektrum der im Internet festzustellenden extremistischen Äußerungen mit dem Ziel der Diffamierung und Verunglimpfung bestimmter Personen oder Gruppen ist sehr komplex. Schmähungen und Propaganda mit gewaltverherrlichenden Elementen zählen zum Standardrepertoire diverser extremistischer Akteure im Internet. 21
Fazit
Holger Münch, Präsident des BKA, kommentierte die Fallzahlen PMK für das Jahr 2020 wie folgt: „Im Jahr 2020 haben die Fallzahlen der Politisch motivierten Kriminalität einen neuen Höchststand erreicht. In der Statistik spiegelt sich das Ausmaß der gesellschaftlichen Spannungen und die zunehmende Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung wider. Auch für das Jahr 2021 ist keine Entspannung zu erwarten. Insbesondere in den Bereichen der Politisch motivierten Kriminalität -rechts- und der Bekämpfung der Hasskriminalität bauen wir deshalb unsere Maßnahmen und Kapazitäten aus. Wir werden aber die anderen Phänomenbereiche nicht aus dem Blick verlieren.“-Dieser Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Autors dar-
Quellen:
1 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Verfassungsschutzbericht 2020. Berlin, Juni 2021, S. 26-29.
2 Vgl. ebd., S. 53.
3 Vgl. Goertz, Stefan (2021): Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus in Deutschland. Eine analytische Einführung für Polizei und Sicherheitsbehörden, S. 17.
4 Vgl. Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat: Verfassungsschutzbericht 2020. Berlin, Juni 2021, S. 48-49.
5 Vgl. ebd., S. 72.
6 Vgl. ebd., S. 113.
7 Vgl. ebd., S. 114.
8 Vgl. ebd., S. 115.
9 Vgl. Bundesamt für Verfassungsschutz (2020): Extremistische und hybride Einflussnahme auf das Demonstrationsgeschehen im Zuge der Corona-Pandemie. BfV-Newsletter Nr. 1+2/2020 – Thema 1.
10 Vgl. ebd; Goertz, Stefan (2021): „Corona-Proteste“ und der Einfluss von Extremisten, in: Forum Kriminalprävention 2/2021, S. 5; Goertz, Stefan (2021): „Querdenker“ – Der neue Extremismusphänomenbereich: „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, in: Polizei Praxis 2/2021, S. 51.
11 Vgl. ebd., http://dipbt.bundestag.de/dip21/btd/19/211/1921139.pdf , S. 6 (25.11.2021).
12 https://www.dw.com/de/kommentar-streit-um-den-sturm-auf-den-reichstag/a-54846037 (26.11.2021).
13 Vgl. Goertz, Stefan (2021): „Corona-Proteste“ und der Einfluss von Extremisten, in: Forum Kriminalprävention 2/2021, S. 5-6; Goertz, Stefan (2021): „Querdenker“ – Der neue Extremismusphänomenbereich: „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“, in: Polizei Praxis 2/2021, S. 51-52.
14 Vgl. ebd.
15 Vgl. https://www.verfassungsschutz.de/SharedDocs/kurzmeldungen/DE/2021/2021-04-29-querdenker.html (27.11.2021).
16 Vgl. ebd.
17 https://im.baden-wuerttemberg.de/de/service/presse-und-oeffentlichkeitsarbeit/pressemitteilung/pid/querdenken-711-wird-beobachtet/ (28.11.2021).
18 Zitiert nach: Eder, Sebastian/Staib, Julian: Radikalisierung der Querdenker. „Es sind Rufe nach Exekutionen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.9.2021.
19 Zitiert nach: Ebd.
20 Zitiert nach: Ebd.
21 Vgl. https://dserver.bundestag.de/btd/19/194/1919408.pdf, S. 5 (29.11.2021).
22 https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/210504_PMK2020.html (29.11.2021).