Ein resozialisierter Lustmörder
Von Werner Sabitzer
Vor über 100 Jahren ermordete ein Zimmerergehilfe aus sexuellen Motiven ein Mädchen in Bayern und eine junge Frau in Wien. Nach 20 Jahren Kerker zog er nach Deutschland zurück und führte ein bürgerliches Leben in Nürnberg.
Die halbnackte Leiche der jungen Frau war blutüberströmt. Der Leib war aufgeschlitzt und Teile des Körperinneren waren herausgerissen – ein Schockerlebnis für die spielenden Kinder, die die Leiche am Sonntag, dem 14. Juli 1910 in einem Gebüsch in der Binder-Au am Dürnkrutplatz im zweiten Bezirk in Wien fanden. Die Gerichtsmediziner stellten fest, dass der Tod durch einen Stich in den Hals eingetreten war. An der blutigen Leiche wurde ein Abdruck eines Handballens festgestellt und vom Erkennungsdienst der Wiener Polizei fotografiert.
Beim Mordopfer handelte es sich um Josefine Peer, geboren am 13. April 1890 in Lechen, Steiermark. Die junge Frau arbeitete in Wien als Dienstmädchen und Gelegenheitsprostituierte. Sie wohnte in einer Wohnung in der Klosterneuburgerstraße 43 im 20. Bezirk und hielt fallweise in Lokalen und in den Donauauen Ausschau nach Freiern.
Bei den Ermittlungen stießen die Kriminalisten des Sicherheitsbüros auf den 32-jährigen Christian Voigt, der in der Nähe des Opfers wohnte. Der Handwerker wurde 1878 in Tettau in Oberfranken geboren und hatte eine schwierige Kindheit gehabt. Eine Zimmererlehre brach er nach einem Streit mit seinem Lehrherrn ab. Er zog durch Deutschland, Österreich und die Schweiz und wurde mehrmals wegen Bettelei und Vagabundage festgenommen. Am 1. Juni 1897 stach er einen Zimmermann nieder, behauptete aber, er hätte in Notwehr gehandelt, weil er von drei Zimmerern angegriffen worden sei.
Einige Jahre später versuchte er in Bayern ein 20-jähriges Mädchen zu vergewaltigen und zu töten. Er wurde in die Irrenanstalt Hildburghausen eingeliefert und im Mai 1902 in die Irrenanstalt Bayreuth gebracht. Von dort flüchtete er im Juni 1902 und verübte im September 1902 einen Sexualmord. Psychiater bescheinigten ihm eine Geisteskrankheit. Deshalb wurde Voigt wieder in die Irrenanstalt Bayreuth eingewiesen. Nach einer neuerlichen Flucht wurde er bald aufgegriffen, aber schon 1909 als „geheilt“ entlassen. Er zog nach Wien, wo er als Zimmerergehilfe arbeitete.
Sachbeweis Handballenabdruck
Bei der Einvernahme stritt Voigt den Tatvorwurf ab. Ein Vergleich des Abdrucks seines Handballens mit den Spuren auf der Leiche ergab aber eine Übereinstimmung. Der Verdächtige wurde daraufhin am 17. August 1910 verhaftet. Als man ihm den Sachbeweis vorhielt, gestand er die Tat: Er habe Josefine Peer aus Lokalen im 20. Bezirk gekannt und mehrmals ihre Liebesdienste in Anspruch genommen. Am 13. Juli habe er sich mit ihr am Abend auf einem Sportplatz getroffen. Dann sei es „über ihn gekommen“. Was dann passiert sei, an das könne er sich nicht mehr erinnern. Er habe die Leiche zur Binder-Au geschleppt und im Gebüsch abgelegt.
Voigt versuchte, seinem Opfer eine „Mitschuld“ an der Tat zu geben. In der „Arbeiterzeitung“ vom 8. Oktober 1910 wird aus dem Gerichtsakt zitiert: „Ich hatte während dieser ganzen Zeit unseres Zusammentreffens bis zum Moment der Tat nicht einen Funken Absicht, das Frauenzimmer zu töten, oder nur zu verletzen, sondern der Akt ist eine Gesamtprodukt mehrerer Umstände, in erster Linie durch die hartnäckige Verfolgung des unglücklichen Opfers selbst. Weil ich nicht die Absicht hatte, das Frauenzimmer zu töten, muss ich protestieren gegen die Anklage des Mordes. Ich kenne keinen großen Unterschied zwischen Totschlag und Mord. Da aber einmal Gesetz Gesetz ist, muss das richtig ausgelegt werden.“
Todesurteil und Resozialisierung
Ärzte der medizinischen Fakultät der Universität Wien begutachteten den Angeklagten und hielten ihn für voll schuldfähig. Christian Voigt wurde am 21. Oktober 1910 vom Geschworenengericht einstimmig des Mordes schuldig gesprochen und zum Tod durch den Strang verurteilt. Sein Verteidiger versuchte, die Hinrichtung wegen Geisteskrankheit des Verurteilten aussetzen zu lassen. Durch einen Gnadenakt des Kaisers Franz Joseph wurde die Todesstrafe am 19. Februar 1912 in eine lebenslange, verschärfte Kerkerstrafe umgewandelt. Der Verurteilte wurde in das Zuchthaus Garsten in Oberösterreich gebracht und 1930 vom Bundespräsidenten Wilhelm Miklas begnadigt.
Nach seiner Freilassung zog Christian Voigt nach Bayern zurück, heiratete 1934 in Nürnberg die Tochter eines Kaufmanns und arbeitete im Geschäft seines Schwiegervaters mit. Er unterstützte die NSDAP; sein Ansuchen, Mitglied zu werden, wurde aber abgelehnt. Der zweifache Lustmörder Christian Voigt starb 1938 „resozialisiert“ in Nürnberg.
In Robert Musils Roman „Mann ohne Eigenschaften“ kommt der Sexualmörder Moosbrugger vor. Musil-Biograf Karl Corino wies 1984 nach, dass sich Musil mit dieser Figur an den Lustmörder Christian Voigt angelehnt und zum Teil wörtlich aus Zeitungsberichten zitiert hatte.
Hinrichtungen
Auf Mord stand damals die Todesstrafe. § 136 des Strafgesetzes 1852 lautete: „Jeder vollbrachte Mord soll sowohl an dem unmittelbaren Mörder, als an demjenigen, der ihn etwa dazu bestellt, oder unmittelbar bei der Vollziehung des Mordes selbst Hand angelegt oder auf eine thätige Weise mitgewirkt hat, mit dem Tode bestraft werden.“ Mittätern mit geringerem Tatbeitrag drohten Kerkerstrafen (§ 137 StG). Allerdings wurden nach 1903 fast alle Todesurteile vom Kaiser in (langjährige) Kerkerstrafen umgewandelt. Insgesamt wurden in der Monarchie von 1874 bis 1914 2.700 Todesurteile verhängt. In diesem Zeitraum gab es 85 Hinrichtungen. Im Jahr 1912 wurden 59 Angeklagte zum Tod verurteilt; 57 von ihnen begnadigte der Kaiser zu Kerkerstrafen. Ein Verurteilter verübte Selbstmord und ein weiterer wurde freigesprochen. Erst nach Beginn des Ersten Weltkriegs gab es wieder vermehrt Hinrichtungen – meist durch die Militärjustiz.
Hinrichtungen in der österreichischen Monarchie erfolgten ab 1873 am „Würgegalgen“.Er bestand aus einem Holzpfahl, an dem eine kurze Doppelschnur befestigt war. Der Delinquent wurde mit dem Rücken an den Pfahl gestellt. Der Scharfrichter bestieg die an den Galgen gelehnte Treppe und legte die Schlinge um den Hals des Verurteilten. Die Helfer zogen auf ein Zeichen des Scharfrichters den Verurteilten an den Schultern kurz und kräftig nach unten, worauf durch die Sperre der Blutzufuhr in das Gehirn Bewusstlosigkeit eintrat. Danach erstickte der Delinquent.
Im Ständestaat und zwischen 1945 und 1950 erfolgten Hinrichtungen ebenfalls auf dem Würgegalgen. Der letzte Hingerichtete war der Raubmörder Johann Trnka. Er wurde am 24. März 1950 im Straflandesgericht Wien gehängt. Er hatte zwei Frauen überfallen, beraubt und ermordet.
Mit 1. Juli 1950 wurde die Todesstrafe in Österreich abgeschafft. Am 7. Februar 1968 beschloss der Nationalrat einstimmig, die Möglichkeit zur Einrichtung von Standgerichten und anderen Formen einer Ausnahmegerichtsbarkeit aus der Bundesverfassung zu streichen. Artikel 85 Bundes-Verfassungsgesetz lautet seither: „Die Todesstrafe ist abgeschafft.“