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Polizeiliche Erfahrung als gefährlicher Ratgeber?

Von Peter Sehr

Eigentlich widerspricht kein Polizist, wenn es um den herausragenden Stellenwert der polizeilichen Erfahrung in Bezug auf die polizeiliche Arbeit geht, noch wagt er, sogar Kritik an ihr zu üben. Aber ist die polizeiliche Erfahrung wirklich das Maß aller Dinge bei der polizeilichen Arbeit oder gibt es nicht doch Zweifel an ihrer Omnipotenz?
Der vorliegende Artikel betrachtet die polizeiliche Erfahrung anhand von Beispielen und kommt dabei zu interessanten Erkenntnissen.

Polizeiliche Erfahrung gilt mit als wichtigstes Instrumentarium der Polizisten bei ihrer Ermittlungstätigkeit. So suggerieren es zumindest zahllose Krimis, die in Kinos und im Fernsehen bestaunt werden dürfen oder einer breiten Leserschaft in diesem Genre schier unüberschaubaren Büchermarkt angeboten werden.

Auch wenn zwischenzeitlich die Spurensuche bei polizeilicher Arbeit deutlich größere Aufmerksamkeit beim Konsumenten fand, zeigen doch die modernen Filme und Serien insbesondere mit Profiling-Techniken wieder die Richtung an, die noch immer Zuschauer und Leser fasziniert – das untrügliche Gespür des Kriminalisten, der aufgrund langjähriger Erfahrung mehr oder weniger schnell seinen Täter überführt.

Tatsächlich ist polizeiliche Erfahrung einer der Grundpfeiler polizeilicher Ermittlungen. Bestimmte Handlungsmuster geben Hinweise auf bestimmte Täter oder Täterkreise, bestimmte Verhaltensweisen belegen eine bestimmte Handschrift und führen somit zur Aufklärung. Auf Modus Operandi- und Perseveranzaspekte begründen sich viele Erklärungstheorien für die Entstehung von Kriminalität. Man sollte also meinen, je mehr Erfahrung ein Kriminalist in seinem (Berufs-) Leben gesammelt hat, umso mehr Handlungsmuster sind ihm bekannt. Sie bieten ihm Ansätze für Ermittlungen in ganz bestimmte Richtungen, womit er Handlungsleitungen begründet und unergiebige Aktivitäten ausschließt.

Doch funktioniert dies immer? Ist es eine zwangsläufige Abfolge oder Vorgehensweise, die dann auch zu einem Routinevorgehen führt?

 

Beispiel 1: NSU

Der NSU-Prozess lässt zumindest hier deutliche Fragen zu: Die mit der Tatwaffe Ceska begangenen Morde führten, begründet durch polizeiliche Erfahrungen, zu Ermittlungen im Umfeld der Organisierten Kriminalität, insbesondere der Rauschgiftkriminalität. Die Ermittlungen wurden schließlich auch auf Waffenkriminalität und andere Formen organisierter illegaler Aktivitäten ausgedehnt. Erst als keiner der Ermittlungsansätze Ergiebigkeit zeigte, wurden auch Überlegungen in Betracht gezogen (Stellv. Leiter der Soko Bosporus, KOR Klaus Mähler, 2006), dass die Morde einen fremdenfeindlichen Hintergrund haben könnten.

Wie auch immer hier die Zusammenarbeitsdefizite Ursache für das Nicht-Weiter-Betreiben dieser Aktivitäten waren – war nicht auch eine Bewertung auf Grund gemachter polizeilicher Erfahrungen verantwortlich, die den Neonazis dieses Maß an Konspirativität nicht zutraute?

Wer auch immer zu diesen Einschätzungen sich bekannte, er wurde durch die weiteren Ereignisse, insbesondere durch die anschließend erfolgte Aufklärung eines „Besseren“ belehrt.

 

Beispiel 2: Junge Mehrfach-Intensivtäter (MIT)

Am 17.10.2010 führte das Bundeskriminalamt (BKA) Wiesbaden eine Tagung mit dem Thema „Junge Mehrfach-Intensivtäter- Gelingt der Wissenstransfer zwischen kriminalistischer Forschung und polizeilicher Praxis?“ durch. Diese Tagung hatte ich damals als Vertretender Leiter des Kriminalistischen Instituts moderiert.

Das Ergebnis war nicht sonderlich überraschend. Polizeiliche Praxis bedarf der Ergänzung wissenschaftlich aufbereiteter Erkenntnisse. Was allerdings sich als höchst interessante Komponente entwickelte, waren Erkenntnisse von Jaqueline Kempfer von der Universität Marburg.

Sie führte aus, dass die auf polizeilicher Erfahrung beruhenden Annahme, dass junge Mehrfachintensivtäter nahezu zwangsläufig kriminelle Karrieren über Jahrzehnte begründen, nach ihrer Auswertung mehrerer wissenschaftlicher Forschungsergebnisse so nicht belegbar sind. Vielmehr gäbe es eine Reihe von Einflussfaktoren wie Frühabbruch, zum Beispiel durch Aufnahme von Arbeit, durch Gründung einer Familie, durch Partnerschaft, oder aber Spätstarter, die in Kindheit und Jugend polizeilich völlig unauffällig waren.

Diese Ergebnisse führten zu einer sehr angeregten Diskussion. Interessant war, dass diese Erkenntnisse von den unmittelbar mit jungen Mehrfachintensivtätern konfrontierten polizeilichen Sachbearbeitern geteilt wurden.

 

Wie kommt es aber dazu, dass sich als polizeiliche Erfahrung das Bild der kriminellen Karriere von früher Kindheit/Jugend an festsetzt?

Eine Ursache mag darin liegen, dass die Interpretation von Ergebnissen wissenschaftlicher Studien nicht das trifft, was wirklich ist.

Die Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle der hessischen Polizei veröffentlichte eine Studie über Mehrfach- und Intensivtäter in Hessen (Claudia-Koch Arzberger, Klaus Bott, Hans-Jürgen Kerner und Kerstin Reich, Basisbericht, 2008), in der u.a. kriminelle Karrieren von Mehrfachintensivtätern  analysiert wurden. Es findet sich naturgemäß eine überproportional große Gruppe von Mehrfachintensivtätern, die bereits in der Kindheit oder Jugend polizeilich auffällig wurden.

Mag die Studie auch zumindest einen Teil der Spätstarter erfassen, so bleiben doch die Frühabbrecher in der Analyse außen vor. Um es deutlich herauszustellen – hier liegt kein Mangel der Untersuchung vor (die im Übrigen sehr lesenswert ist), sondern ein Mangel an richtiger Interpretation.

Wissenschaftler gehen mit polizeilichen Problemen anders um als Polizisten. Polizisten orientieren sich im Wesentlichen am Hier und Jetzt, müssen zügig arbeiten, arbeiten unter Zeit- und Vorgangsdruck. Wissenschaftler benötigen (und haben) Zeit, arbeiten gründlich und bewerten auf der Basis von Fakten.

Es wurde in der Tagung deutlich, dass hier zwei Welten existieren, die miteinander große Schnittmengen haben, die aber in der Regel nicht zusammenkommen.

(Mag es auch als Ergebnis der Tagung zu einem allgemeinen Bedauerns dieses Umstandes gekommen sein, viel ändern wird sich erst einmal nicht.)

 

Beispiel 3: „Die Sicht der Anderen“

Terroristen, Extremisten, gleich ob links- oder rechtsorientiert, insbesondere islamistische Terroristen und Extremisten werden im Laufe ihres Lebens nach und nach zu dem, was sie schließlich verkörpern. Sei es durch Gehirnwäsche oder durch andere, wie auch immer geartete Formen des Überzeugens, es existiert ein überwiegend über viele Jahre sich aufbauender Entwicklungsprozess, der in den Terrorismus oder in den Extremismus führt.

Stimmt! Werden viele, insbesondere Polizisten sagen. Nach Erscheinen einer Studie des BKA (Saskia Lützinger: Die Sicht der Anderen, eine qualitative Studie zu Biografien von Extremisten und Terroristen, BKA/Luchterhand, Polizei und Forschung, Band 40, 2010) sind aber Zweifel daran angebracht.

Die Studie beinhaltet insgesamt 39 Biografien von Extremisten und Terroristen aus dem rechten, linken und islamistischen Umfeld. Die zentrale Fragestellung war, welche Faktoren eine signifikante Rolle spielen, um Terrorist oder Extremist zu werden.

Die Studie kommt zu höchst interessanten Ergebnissen – eigentlich ist es eher zufällig, ob Personen in den Rechts- oder Linksterrorismus abwandern. Vielmehr sind es andere Faktoren, die Gemeinsamkeiten aufweisen: So ist durchgängig Gewalt im Elternhaus, insbesondere durch den Vater, feststellbar. Die Familien sind funktional und/oder strukturell gestört, Problemlösungsverhalten wurde nicht oder nur ungenügend erlernt. Die betroffenen Personen sahen sich durchweg fremdbestimmt, suchten nach Ordnung und Struktur (die sie nicht fanden) und machten ihre negativen Erfahrungen im Hinblick auf Diskriminierung.

Je nach Abenteuertrieb und Risikobereitschaft startete dann die Suche nach bestimmten Ordnungsfaktoren im derangierten Leben.

Je früher eine Person dem Elternhaus den Rücken kehrte, um so mehr bestand die Chance, auf eine Szene zu treffen, die dem rechten Umfeld zuzurechnen ist.

Zwangsläufig trafen Personen, die sich später von zu Hause trennten, oftmals auf linke Strukturen.

Das Sich-Integrieren in eine solche Gruppe und der damit einhergehende neue Status des Willkommenseins und Angesehenwerdens sind im Wesentlichen die Treiber in den Extremismus, Terrorismus, gleich welcher Ausprägung.

Oder anders ausgedrückt: Ob Rechts- oder Links-, oder ob islamistischer Terrorist oder Extremist, die jeweilige Ausrichtung spielte keine signifikante Rolle.

Nun mag man einwenden: 39 Biografien? Reicht das für valide Ergebnisse aus?

In der Tat wird man hier weiter forschen müssen, insbesondere auf europäischer Ebene, um zu vergleichbaren Resultaten zu kommen.

Zweifel an der bisherigen Einschätzung sind aber angebracht, zumal auch Anzeichen zu erkennen sind, dass in anderen Gesellschaften ähnliche Erfahrungswerte auszumachen sind.

Sollte sich herausstellen, dass diese Ergebnisse wissenschaftlich weiter fundiert werden können, so müssen polizeiliche Strategien und Organisationen auf den Prüfstand (und nicht nur polizeiliche. Insbesondere Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder wären im erheblichen Maße betroffen).

Um nicht missverstanden zu werden: Diese Betrachtungen sind kein Plädoyer gegen die polizeiliche Erfahrung. Vielmehr geht es mir darum aufzuzeigen, dass es insbesondere bei Interpretationen und bei der Einbeziehung selbst erlebter Erfahrungswerte Fehler passieren können, die erhebliche Auswirkungen entwickeln.

Als junger Kriminalist hatte ich gelernt, allen Ansätzen von Spuren nachzugehen und nichts auszulassen. Jede Spur durchermitteln war das Credo der damaligen Zeit. Daran sollte sich auch heute nichts geändert haben. Der Hinweis auf den Zeit- und Vorgangsdruck mag zwar nachvollziehbar sein in strategischer Hinsicht gilt dies jedoch nicht.

Polizeiverantwortliche tun gut daran, wissenschaftliche Erkenntnisse ernst zu nehmen, ja sie erst einmal wahr zu nehmen. Machen Sie sich die Mühe, die oftmals für Sie wenig verständliche wissenschaftliche Botschaft zu verstehen (mit etwas Willen geht das sehr gut), sind Sie bereit mit Wissenschaftlern zu kommunizieren, sich auszutauschen, ergeben sich eine Fülle hilfreicher Ansätze für eine gute Strafverfolgung, mehr noch: Eine gute Prävention.

Dogmen und Rechthaberei müssen dabei ebenso selbstverständlich über Bord geworfen werden wie andere, rational nicht nachvollziehbare Motivationen.

Wer das als Verantwortlicher kann, zeigt wahre Größe.

 

 

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