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Terrorismusforschung.

Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis.

Interdisziplinäres Handbuch für Wissenschaft und Praxis.
Liane Rothenberger, Joachim Krause, Janis Jost, Kira Frankenthal (Hrsgg.),
Baden-Baden 2022,
862 Seiten.
ISBN 978-3-8487-6321-4.
Ladenverkaufspreis 98 €.
Seit dem Ende der 1960er Jahre bedroht der Terrorismus die Staaten der westlichen Welt. Die Motive der Täter wandelten sich – die meisten Taten sind dem Links-, Rechts- oder dem von Islamisten ausgehenden Terrorismus zuzuordnen – und ebenso wechselten Hochphasen terroristischer Aktivitäten mit Phasen relativer Ruhe ab. Als gesicherte Erkenntnis darf ebenso gelten, dass die Staaten mit unterschiedlichen Maßnahmen auf diese Bedrohung reagierten: Die Schaffung von Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs ist hier zu nennen und ebenso mehr oder weniger umfangreiche Gesetzesänderungen.

70 Autoren haben für diesen Sammelband einen Beitrag geleistet. Das Spektrum der behandelten Themen ist breit. Es umfasst fünf Blöcke: Erscheinungsformen, Ursachen und Radikalisierung, Wahrnehmung und Auswirkungen, Gegenmaßnahmen und Terrorabwehr sowie die Forschungsmethodischen Zugänge. Der Soziologe Peter Waldmann stellt in seinem Vorwort heraus, der Sammelband zeichne sich durch die seltene Besonderheit aus, dass zu diesem „brisanten Thema“ die „wissenschaftlichen Kompetenzen mit den Erfahrungen und Anliegen von Praktikern“ kombiniert würden. Er unterstreicht die Fortschritte in der Erforschung des Terrorismus und greift dazu beispielhaft einen Aspekt in der Ursachenforschung heraus. Galt es noch vor wenigen Jahrzehnten als ausgemacht, dass Terroristen „eine anomale Persönlichkeitsstruktur aufweisen“ – so beurteilte man früher die Führungsspitze der Roten Armee Fraktion (RAF) – so wird der Weg zum Terrorismus seit etwa Mitte der 1980er Jahre anders gesehen. Heute sind die Wissenschaftler nahezu unisono davon überzeugt, dass sich einerseits ganz „normale Gläubige in diese Form des Extremismus hineinsteigern konnten“ und andererseits die „Karriere in einer terroristischen Gruppe kein unausweichliches Schicksal“ ist. Dies ist ein weiterer Ansatzpunkt des Sammelbandes, denn er will auch aufzeigen, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, „den Weg in die Gewalt zu durchbrechen“.

Ohne Zweifel ist es bei diesem Thema zielführend, einen die wissenschaftlichen Fächer übergreifenden Ansatz zu wählen. Dass dies im vorliegenden Buch umgesetzt wird, belegen die Herausgeber durch eine Tabelle, in der sie die Autoren in 30 Fachrichtung einordneten. Am häufigsten – leider wird weder die Anzahl noch der Prozentsatz angegeben – finden sich Politikwissenschaftler, gefolgt von Psychologen und Soziologen. Am unteren Ende stehen Sportwissenschaftler und Polizeiwissenschaftler, Literaturwissenschaftler und Philosophen.

Dieser interdisziplinäre Ansatz ist, wie gesagt, gerechtfertigt, angesichts der thematischen Komplexität. Jedoch birgt diese Herangehensweise in sich mehrere Probleme. Der Leser steht vor der Herausforderung, dass er mit der in jedem wissenschaftlichen Fach unterschiedlichen Sprache konfrontiert wird. So ist eine „Krise“ für einen Mediziner etwas gänzlich anderes als für einen Geisteswissenschaftler. Manche Autoren des Sammelbandes bemühten sich, diesen Knackpunkt durch eine bewusst einfache, allgemeingültige Sprache zu umgehen. Jedoch führt dies dann zwangsläufig zu sprachlichen Unschärfen.

Ein Kernproblem der Terrorismusforschung ist es, eine allgemein verwendbare Definition dessen anzubieten, was Terrorismus ist. Ein Problem, das nur bei einer sehr oberflächlichen Betrachtung lösbar erscheint. In dieser Hinsicht vielleicht vergleichbar mit einem Kernproblem der Mathematik: eine Antwort auf die Riemannsche Vermutung zu finden. In mehreren Beiträgen des Sammelbandes werden die Geschichte des Terrorismus, seine Erscheinungsformen und Modi Operandi beschrieben. Eine Definition des Begriffs wird nicht versucht, statt dessen ausgehend von der Annahme, dass Terrorismus ein „grundsätzlich umstrittener Begriff der politischen Sprache ist“ festgestellt, und zu Recht darauf verwiesen, dass der Grund dafür darin zu suchen ist, dass „die Definitionshoheit und der Definitionsgegenstand selbst auch dem geschichtlichen Wandel unterworfen“ ist. Dies zeigt sich besonders deutlich in dem Umstand, dass sich in der Vergangenheit sehr viele Beispiele dafür finden lassen, dass aus ehemaligen Terroristen Staatsmänner wurden.

Bei der Erforschung der Ursachen für den Weg in den Terrorismus war die deutliche Verbreiterung des Betrachtungswinkels sehr hilfreich, wie bereits angedeutet. Darüber hinaus werden in den 14 Beiträgen dieses Kapitels aber auch neue Themen betrachtet, die sich durch technische Neuerungen ergaben. So etwa ganz allgemein das Internet und hier besonders die sozialen Medien. Zusammengefasst werden die Erkenntnisse über Religion und Terrorismus sowie Musik und Terrorismus, Letzteres festgemacht am Beispiel des „Rechtsrocks“.

Die größte thematische Breite wird in dem Kapitel „Wahrnehmung und Auswirkungen“ erreicht. Hier geht es unter anderem um den angenommenen Widerspruch zwischen Sicherheit und Freiheit, die Frage, was die Angst vor Terrorismus in demokratischen Staaten bewirkt oder es werden die rechtlichen Implikationen des Themas angerissen. Des Weiteren wird aber auch teilweise in mehreren Beiträgen behandelt, wie Terrorismus Medien verändert oder wie sich die Angst vor dem Terrorismus auf Sportveranstaltungen auswirkt. Hier wird aber auch der Krieg gegen den Terrorismus dargestellt, der durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 ausgelöst wurde.

Eng mit diesem Kapitel verknüpft sind die unterschiedlichen Maßnahmen zur Verhütung terroristischer Anschläge. Diese werden unter der Überschrift „Gegenmaßnahmen“ ebenso beschrieben wie Aspekte der medizinischen oder psychologischen Opferversorgung. In sich hoch komplexe Themen – so allen anderen voran die Frage der Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit zwischen Geheimdiensten und Polizei – können lediglich angerissen werden, ebenso die wichtige Frage, wie Terrorismus finanziert wird.

Im Kapitel über die Forschungsmethodischen Zugänge liefern Alexander Kocks und Kevin Moull einen zwar knappen, aber dennoch aussagekräftigen Überblick über die Methoden der Terrorismusforschung. Diese Darstellung bildet gleichsam den Schlüssel zum Verständnis des Gesamtthemas. Allerdings betonen die Autoren sehr stark die Chancen des interdisziplinären Ansatzes, die inhärenten Probleme lassen sie in den Hintergrund treten.

Der Sammelband beinhaltet zahlreiche wichtige Aufsätze und ist schon allein deshalb für eine Betrachtung des Phänomens Terrorismus unverzichtbar. Die unterschiedlichen Bewertungen dürfen nicht als Mangel gewertet werden, auch wenn die Gegensätze teilweise schroff sind. So besteht ein Autor darauf, dass sich Guerillagruppierungen signifikant von terroristischen Organisationen unterscheiden. Eine Bewertung, die nicht alle Autoren des Sammelbandes teilen. Probleme werden nicht verschwiegen. Die Herausgeber beschreiben in ihrer Einleitung, dass mehrere Autoren beklagen, häufig fehle zwischen den Begriffen Extremismus und Terrorismus die Trennschärfe. Insbesondere gelte dies für die Wahrnehmung in der breiten Öffentlichkeit. Stimmt. Dann stellen sie jedoch fest, dass diese Einordnung „die Grundlage für einen Großteil der öffentlichen – nicht zuletzt finanziellen – Zuwendung ist.“ Dies bedeutet, dass die Wissenschaft Unschärfen akzeptiert, um die notwendige finanzielle Zuwendung zu erlangen. Freie Wissenschaft sieht sicher anders aus.

Ein anderes Problem lastet hingegen ohne Not auf diesem Buch. Einem vermeintlichen Zeitgeist folgend, entschieden sich die Herausgeber dafür, die Beiträge durchgehend zu gendern. Sie meinen: „Der Doppelpunkt stört die Lesbarkeit des Wortes nicht sonderlich.“ Jedoch nehmen sie ein Wort aus: Terrorist und Terroristen sind für die Herausgeber männlich. Auch das begründen sie: Die Akteure seien mehrheitlich Männer, zudem „würde das Gendern eines – in einem Handbuch zur Terrorismusforschung – derart häufig vorkommenden Wortes den Lesefluss dann doch ernsthaft beeinträchtigen.“ Dass Terroristen mehrheitlich Männer sind, darf man getrost in Frage stellen. Dabei muss man nicht an das weitgehend unerforschte Thema der islamistischen Terroristinnen denken. Vielmehr widerlegt die Darstellung von Gisela Diewald-Kerkmann „Frauen, Terrorismus und Justiz“ diese Annahme eindrucksvoll. Sie betrachtet darin akribisch die Prozesse gegen weibliche Mitglieder der RAF und der Bewegung 2. Juni. Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Brigitte Mohnhaupt, Irmgard Möller – um nur die deutschen Top-Terroristinnen zu nennen –, waren alle weiblich. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass Gisela Diewald-Kerkmann für diesen Sammelband einen Beitrag geschrieben hat, aber mancher mag vielleicht darüber schmunzeln, dass sich in ihrem Aufsatz die Worte „Terroristin“ und „Terroristinnen“ finden und das gleich mehrfach.

-Von Dr. Reinhard Scholzen-

 

Über den Autor
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen
Dr. Reinhard Scholzen, M. A. wurde 1959 in Essen geboren. Nach Abitur und Wehrdienst studierte er Geschichte und Politikwissenschaft an der Universität Trier. Nach dem Magister Artium arbeitete er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter und promovierte 1992. Anschließend absolvierte der Autor eine Ausbildung zum Public Relations (PR) Berater. Als Abschlussarbeit verfasste er eine Konzeption für die Öffentlichkeitsarbeit der GSG 9. Danach veröffentlichte er Aufsätze und Bücher über die innere und äußere Sicherheit sowie über Spezialeinheiten der Polizei und des Militärs: Unter anderem über die GSG 9, die Spezialeinsatzkommandos der Bundesländer und das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr.
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