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„Die Ampel würgt“
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Wenn die innere Sicherheit zur Fußnote wird

Anmerkungen zum Stellenwert eines wichtigen Politikfeldes im aktuellen Koalitionsvertrag

Von Bernd Walter, Präsident eines Grenzschutzpräsidiums a.D., Berlin

Wer sich für Fragen der Inneren Sicherheit interessiert und Banalitäten wie „Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit sind die Grundlagen für das friedliche Zusammenleben“ oder „Deutschland ist eines der sichersten Länder der Welt“ nicht unbedingt für Jahrhunderterkenntnisse einer zukunftsorientierten Sicherheitspolitik hält, wird selbst bei intensivem Studium des Sicherheitsbereiches im aktuellen Koalitionsvertrags der Ampelregierung keinen Erkenntnisgewinn aus dem vorliegenden unsystematischen Konglomerat von Allgemeinplätzen, Wunschvorstellungen, Absichtserklärungen, Verallgemeinerungen und unbelegten Behauptungen ziehen, zumal die Umsetzung bewusst nebulös bleibt und eine grundlegende und zukunftsorientierte Strategie fehlt. Auch wenn die Verfasser derartiger Koalitionsverträge nicht als Anwärter für den Pulitzer-Preis gelten und strategisches Denken in der bundesdeutschen Sicherheitspolitik eher ein Nischendasein führt, hätte man bei einem derartigen Opus, das Sicherheitsfragen gerade mal 5 Seiten widmet, gerade im Bereich der inneren Sicherheit durchaus mehr Systematik, eine stringentere Argumentation und insbesondere eine wegweisenden, dem anspruchsvollen Titel („Mehr Fortschritt wagen“) gerechter werdende Leitidee erwarten dürfen. Stattdessen findet man ein offenbar durch nach Proporz zusammengesetzten Arbeitsgruppe erarbeitetes kleinteiliges Sammelsurium tatsächlicher und vermeintlichen Sicherheitsthemen vor, in dem die beteiligten Parteien ihre unterschiedlichen innenpolitischen Steckenpferde ohne Rücksicht auf inhaltliche Konsistenz zu Papier brachten.

Es gehört zu den Defiziten bundesdeutscher politischer Willensbildung, dass gerade die beiden Bereiche, die eine konsistente politische und fachliche Meinungsbildung und eine Legislaturperiode unabhängige Kontinuität über einen langen Zeitkorridor erfordern, zur Manövriermasse in Koalitionsverhandlungen verkommen sind. Es sind dies der gesamte Bildungssektor und die Gewährleistung der inneren Sicherheit, die als föderale Residualkompetenzen im politischen Meinungsstreit besonders strapaziert werden. Dabei erfordert gerade die innere Sicherheit im föderalen Staat mit seiner Vielzahl von Sicherheitsakteuren und unterschiedlichen Kompetenzen als grundsätzliche Wirksamkeitsvoraussetzung eine einvernehmliche Strategie als Leitidee und ein ressortübergreifendes Steuerungsorgan. Wesentliche Essenzen wirksamer Strategien sind die nüchterne Analyse der Lage, eine präzise Zielformulierung und die Erarbeitung der Pfade zur Zielerreichung. Um Bestand zu haben, müssen sie langfristig angelegt sein, die unterschiedlichen Politikfelder verknüpfen, die erforderlichen Ressourcen bereitstellen und den Willen zur Durchsetzung erkennen lassen. Sicherheitspolitische Leitlinien, die eine Bewertung als Strategie rechtfertigen, sind in Deutschland jedoch rar gesät. Vielmehr wird die nationale Sicherheitsdiskussion durch anlassbezogene Zufallsentscheidungen, Engscheidungen nach Kassenlage, parteipolitisch bedingte Kontroversen und einem Mangel an systemischem Denken bestimmt. Ursachen sind neben ideologischen Frontstellungen in Sicherheitsfragen und föderale Alleingänge sowohl die Vielzahl von Sicherheitsakteuren als auch eine nur gering ausgeprägte wissenschaftliche Grundlagenforschung in Sicherheitsfragen.

Betrachtet man die Maßnahmen der Sicherheitspolitik in den letzten Jahren, mangelt es vordergründig um verbindliche programmatische Festlegungen. Überhaupt bestehen nur zwei Grundsatzpapiere und diese auch nur in Ansätzen. Das aktuelle Exponat ist die Neufassung des Weißbuches zur Sicherheit in Deutschland und zur Zukunft der Bundeswehr aus dem Jahre 2016. Die Erarbeitung wurde weitgehend dem Bundesverteidigungsministerium überlassen mit dem Ergebnis, dass eine umfassende integrative Sicherheitskonzeption nicht erfolgte. Eine Abstimmung zwischen den einzelnen Sicherheitsressorts kam nicht zustande, obwohl die grundsätzlichen Probleme durchaus bekannt waren. Sein Hauptnachteil ist die Tatsache, dass die Lösung grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Probleme erst gar nicht in die nähere Betrachtung kam. Das zweite Grundsatzpapier ist das am 17. Juni 1972 durch die Ständige Konferenz der Innenminister/-senatoren des Bundes und der Länder verabschiedete „Programm für die Innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland“, welches im Jahre 1974 überarbeitet und fortgeschrieben wurde. Eine weitere Fortschreibung erfolgte 1994 und in den Jahren 2008/2009. Es ist das wesentliche nationale strategische Grundsatzprogramm der deutschen Innenpolitik und beinhaltet eine Reihe von politischen Leitlinien und Vorgaben. Eine Bezugnahme durch das Weißbuch erfolgte bezeichnenderweise erst gar nicht. Eine Orientierung an den dort niederlegten und unverändert geltenden Herausforderungen wäre auch für die Verfasser des Koalitionsvertrages von Gewinn gewesen. Dazu muss man das Papier allerdings kennen.

Zurück zum Koalitionsvertrag. Selbst die Innovationsbereitschaft verheißende Titular „Mehr Fortschritt wagen“ ist -abgesehen davon, dass der Inhalt ihr nicht gerecht wird- nicht von sonderlicher Originalität, zumal dieses Motto bereits von Willy Brandt in seiner ersten Regierungserklärung im Jahre 1969 bemüht wurde. In der 18. Legislaturperiode hieß es bereits „Deutschlands Zukunft gestalten“, in der 19. Legislaturperiode dann „Ein neuer Aufbruch für Europa-eine neue Dynamik für Deutschland.“ Allenfalls besteht der nunmehr verheißende Fortschritt darin, dass die Innere Sicherheit trotz ihrer herausragenden Bedeutung als fundamentales Politikfeldunter der amorphen Sammelüberschrift „Innere Sicherheit, Bürgerrechte, Justiz, Verbraucherschutz und Sport“ versteckt wird, deren innere Logik, bei der inneren Sicherheit, Verbraucherschutz und Sport gleichgestellt werden, sich selbst phantasievollen Zeitgenossen nicht erschließen dürfte. In der 18. Legislaturperiode lautete der relevante Abschnitt immerhin noch „Moderner Staat, innere Sicherheit und Bürgerrechte“, in der Fassung der 19. Legislaturperiode „Ein handlungsfähiger und starker Staat für eine freie Gesellschaft“.

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Nun sind Überschriften nicht nur stilistisches Beiwerk, sondern lassen bereits Stellenwert der einzelnen Politikfelder bei den Verfassern sowie die dazugehörigen Umsetzungsabsichten und Schwerpunktsetzung erkennen. Dies lässt sich augenfällig am Beispiel der Bundespolizei festmachen. Die Verfasser der 18. Legislaturperiode wollten die Bundespolizei als kompetente und effektive Strafverfolgungsbehörde stärken, gut qualifizierte Bereitschaftspolizeien vorhalten und in Kriminalitätsschwerpunkten mit zusätzlichen Mitteln mehr Videotechnik einsetzen. In der 19. Legislaturperiode wollte man sich dafür einsetzen, dass die Bundespolizei bundesweit im Rahmen bestehender Zuständigkeiten und Aufgaben eingesetzt wird, so auch zu Bekämpfung von Straftaten an Kriminalitätsschwerpunkten. Die Festlegungen hatten einen deutlichen innovativen und auf Leistungsverbesserung bedachten Charakter. Ähnliche Erkenntnisse zum sicherheitspolitischen Mehrwert für die personalstärksten Polizeiorganisation in Deutschland sucht man im aktuellen Koalitionsvertrag vergeblich.

So fällt den Verfassern zu den Polizeien des Bundes lediglich die Einführung eines unabhängigen Polizeibeauftragten ein, ein Lieblingsprojekt der Grünen, mit dem sie schon mehrmals in der Vergangenheit scheiterten. Mit keiner Silbe wird erwähnt, dass bereits jetzt die Liste der Beauftragten der Bundesregierung der Bundesbeauftragten sowie der Koordinatoren der Bundesregierung nach § 21 Abs. 3 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien 42 Stelleninhaber umfasst, deren Effizienz noch nicht einmal ansatzweise evaluiert wurde, von den Zusatzkosten ganz zu schweigen. Statt der Einführung eines weiteren bürokratischen Kontrollmonstrums wäre die Bundespolizei vielmehr an der seit über dreißig Jahren erforderlichen Novellierung des von der Entwicklung überholten Bundespolizeigesetzes und der Bestimmungen über die Anwendung unmittelbaren Zwanges gelegen, deren Umsetzung in der letzten Legislaturperiode an der Ländervertretern der SPD scheiterte. Hierzu erfährt man aber im Koalitionsvertrag lediglich, dass eine etwaige Novellierung ohne die Befugnis zur Quellen-TKÜ und Online-Durchsuchung erfolgen soll, womit man ohne nähere Prüfung der Folgen das Ergebnis vorwegnimmt und der Bundespolizei nach Ansicht aller Fachleute erforderliche Befugnisse zur erfolgreichen Bekämpfung des Terrorismus und der Organisierten Kriminalität vorenthält. Zu dieser Manifestation eines offensichtlichen Desinteresses an Problemen des Polizeirechts passt auch die Tatsache, dass von der im 19. Koalitionsvertrag geforderten Erarbeitung eines gemeinsamen Musterpolizeigesetzes keine Rede mehr ist. Forderte der 19. Koalitionsvertrag noch den Ausbau und die Weiterentwicklung intelligenter Videoüberwachung an Brennpunkten, wird nunmehr flächendeckende Videoüberwachung und die biometrische Erfassung zu Überwachungszwecken abgelehnt, obwohl nach einer Allensbachumfrage 78 Prozent der Bevölkerung die biometrische Gesichtserkennung zur Verbrechensbekämpfung an Bahnhöfen und Flugplätzen befürworten.

Auffällig ist, dass die Verfasser als Bundespolitikersouverän die prioritäre Zuständigkeit der Länder für Polizeifragen missachten. Bei der Absicht, für eine „bürgernahe, gut ausgestattete und ausgebildete Polizei zu sorgen“ wurde offensichtlich nicht erkannt, dass dies allenfalls für die Bundespolizeien und für den bescheidenen Zuständigkeitsrahmen des Inspekteurs der Bereitschaftspolizeien der Länder gelten kann, denn für die Ausstattung und Ausbildung der des Großteils des nationalen Polizeikörpers sind die Länder zuständig.

Überwachungskameras in Wohngegenden
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Dies gilt gleichermaßen für die Forderung nach mehr Bürgernähe und transparenter Fehlerkultur in der Aus- und Fortbildung der Polizei, wobei offensichtlich die weitreichenden länderspezifischen Umsetzungen nicht bekannt sind.

Störend wirkt auch, dass in dem Papier weniger die Optimierung der Leistungsmöglichkeiten der staatlichen Organe im Vordergrund steht, als vielmehr die Absicht, die Kontrolle und Überprüfung der Sicherheitsorgane zu intensivieren, eine Tendenz, die sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Abschnitte zieht. So auch die pseudonyme Kennzeichnung von Polizistinnen und Polizisten, die die Koalitionäre-wenn überhaupt- nur bei der Bundesbereitschaftspolizei durchsetzen können ein. Bei allen anderen Polizeieinrichtungen des Bundes ist die Forderung gegenstandslos.

Den ambitiösen Anspruch auf Fortschrittlichkeit soll wohl auch die permanente Berufung auf Wissenschaftlichkeit und Expertentum suggerieren. Hierzu folgendes Glanzstück kommender Sicherheitspolitik: „Wir sorgen für eine vorausschauende, evidenzbasierte und grundrechtsorientierte Sicherheits-und Kriminalpolitik. Dies werden wir mit einer unabhängigen interdisziplinären Bundesakademie begleiten. Die Eingriffe des Staates in die bürgerlichen Freiheitsrechte müssen stets gut begründet und in ihrer Gesamtwirkung betrachtet werden. Die Sicherheitsgesetze wollen wir auf ihre tatsächlichen und rechtlichen Auswirkungen sowie auf ihre Effektivität hin evaluieren. Deshalb erstellen wir eine Überwachungsgesamtrechnung und bis spätestens Ende 2023 eine unabhängige wissenschaftliche Evaluation der Sicherheitsgesetze und ihrer Auswirkungen auf Freiheit und Demokratie im Lichte technischer Entwicklungen. Jede zukünftige Gesetzgebung muss diesen Grundsätzen genügen. Dafür schaffen wir ein unabhängiges Expertengremium (Freiheitskommission), das bei zukünftigen Sicherheitsgesetzgebungsvorhaben berät und Freiheitseinschränkungen evaluiert.“ Abgesehen davon, dass die nicht näher definierte interdisziplinäre Bundesakademie und die unabhängige Freiheitskommission im Falle einer -allerdings eher unwahrscheinlichen- Implementierungsmaßnahme zumindest Betätigungsfelder für beschäftigungslose Sozialwissenschaftler und wissenschaftliche Mitarbeiter ähnlicher Provenienzen bereitstellen würden, ist Gesetzgebung und die Überprüfung der sich daraus ergebenden Konsequenzen zuvörderst Aufgabe der Legislative. Man könnte sich aber auch ein Beispiel an Art. 170 der Schweizer Bundesverfassung nehmen, wonach die die Bundesversammlung dafür sorgt, dass die Maßnahmen des Bundes auf ihre Wirksamkeit überprüft werden.

Mit der Forderung nach einer Überwachungsgesamtrechnung, die die FDP-Fraktion bereits Anfang 2021 mit der Bundestagsdrucksache 19/23695 in die parlamentarische Diskussion einführte, soll das bisher nur als abstraktes Wissenschaftsmodell vorliegende periodischen Überwachungsbarometers praktisch Hand bar gemacht werden, um die tatsächliche Überwachungslast der Bevölkerung durch die Sicherheitsbehörden möglichst realitätsnah zu erfassen. Das Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht entwickelte dazu im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung ein Konzept, mit dem sich eine Überwachungs-Gesamtrechnung operationalisieren lässt. Es ist in dieser Form weltweit einmalig, dürfte aber in Hinblick auf den materiellen und personellen Aufwand zumindest in dieser Legislaturperiode nicht umsetzbar sein, zumal es zwischenzeitlich genügend Verfahren gibt, um die Effektivität von Gesetzen zu überprüfen und um festzustellen, inwieweit Gesetze in ihren Intentionen der Gesetzeswirklichkeit gerecht werden. Die Verfahren, unter dem Begriff Gesetzesevaluation oder Gesetzesfolgenabschätzung bekannt geworden, werden zunehmend zu einem notwendigen Element der Gesetzgebungsmethodik. Insbesondere im Sicherheitsbereich gibt es zunehmend mehr Regelungen mit einer möglichen Verfallszeit. Prüffaktoren sind insbesondere Effizienz und Effektivität.

So prätentiös diese Verfahren sind, so unterentwickelt sind sie zurzeit noch in der Praxis. Zum Teil werden noch nicht einmal die Evaluierungspflichten eingehalten, wie der Bundesdatenschutzbeauftragte z.B. in Hinblick auf die nach dem 11.9.2001 erlassenen Anti-Terror-Gesetze monierte. Und an die Einfügung einer Gesetzesevaluation in das Grundgesetz, wie es die Eidgenossen im Art. 170 ihrer Verfassung praktiziert haben, ist schon gar nicht zu denken. Die Schweizer Regelung dient u.a. der Überprüfung, wie sich bedeutsame politischer Sachverhalte, die bei Abfassung der Verfassung nicht vorhersehbar waren, auf diese auswirken. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht der Politik eine Pflicht zum Nachbessern gesetzlicher Regelungen ins Stammbuch geschrieben (BVerfGE 56,78). Der Gesetzgeber habe nicht nur beim Erlass eines Gesetzes die verfassungsrechtlichen Grenzen einzuhalten, sondern trage auch die Verantwortung, dass die Gesetze in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz bleiben (BVerfGE 15,350). Dies gilt gleichermaßen für die Absicht nach einer „grundlegendem Revision der umfangreichen Anzahl von Datenbanken“, bei der nicht eine kritische Überprüfung der Datenschutzregelungen für eine effektive Polizeiarbeit im Vordergrund steht, sondern die Stärkung des Rechtschutzes sowie der Datenaufsicht durch der Bundesbeauftragten für den Datenschutz. Aus ähnlichen Vorhaben der Vergangenheit wurde bisher nur bekannt, dass sie zeitaufwändig und teuer waren und in der Regel folgenlos blieben. Bei der Forderung nach Öffnung der Polizei für eine „unabhängige Forschung“ darf man auf eine adäquate Umsetzung gespannt sein, belegen doch die meisten bereits vorliegenden Forschungserkenntnisse dass viele Gruppierungen, die sich der Polizeiforschung verschrieben haben, sich eher in deutlicher Distanz zu den Trägern des Gewaltmonopols positionieren, während Forschungsergebnisse, die der Optimierung der Arbeit der Sicherheitsbehörden dienen, abgesehen von einigen technischen Teilbereichen recht überschaubar blieben.

Ebenfalls eher symbolischen Charakter hat die Forderung, den „Periodischen Sicherheitsbericht“ gesetzlich zu verankern. Zwar wird suggeriert, dass die beiden vorliegenden Berichte wesentlich zum Erkenntnisgewinn in der Sicherheitsgewährleistung beigetragen haben, was erkennbar aber nicht der Fall war, denn in der Sicherheitsdiskussion haben sie bisher nur eine marginale oder gar keine Rolle gespielt.

Besonders gespannt darf man auf die Umsetzung der ambitionierten Absicht sein, die „Sicherheitsarchitektur in Deutschland einer Gesamtbetrachtung zu unterziehen und die Zusammenarbeit der Institutionen für die Sicherheit der Menschen effektiver zu gestalten.“ Dabei scheint offensichtlich nicht klar zu sein, dass eine „Gesamtbetrachtung“ ohne Umsetzung der daraus resultierenden Konsequenzen vergebliche Liebesmüh ist, denn bei realistischer Betrachtungsweisehaben weder die Föderalismusreformen noch die umfangreichen und personal- und zeitintensiven Untersuchungsberichte der letzten Jahre im Zusammenhang mit terroristischen Ereignissen verwertbare Ergebnisse im Gefolge gehabt.

So liegt bereits mit dem Bericht des 2. NSU- Untersuchungsausschusses seit dem 22. August 2013 eine in dieser Form und in diesem Umfang noch nie erstellte Analyse zu den möglichen Ursachen der schrecklichen Mordserie des NSU und den grundsätzlichen sicherheits- und rechtspolitischen Defiziten vor. Der Ausschuss beschreibt in einem eigenen Kapitel unter anderem ausführlich Maßnahmen zur besseren Vernetzung von Polizei und Verfassungsschutz und zur Kooperation von Bund und Ländern, aber das sein Hauptverdienst besteht darin, dass er jenseits aller parteipolitischen Vorbehalte und in aller Deutlichkeit die gesamte föderale Sicherheitsarchitektur Nachkriegsdeutschlands auf den Prüfstand gestellt, durchleuchtet und transparent gemacht hat. Zu dem für die polizeiliche und nachrichtendienstliche Arbeit besonders wichtigen Informationsaustausch und zur Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden kommt er unter der Zwischenüberschrift „Abschottung, Konkurrenzdenken, Eitelkeiten und fehlende Eigeninitiative haben das Handeln über weite Strecken bestimmt“ zu dem Ergebnis, dass eine weitere besorgniserregende Erkenntnis der Ausschussarbeit war die, dass die im gesamten NSU-Komplex beteiligten Behörden kaum effektiv zusammengearbeitet haben und das wesentliche Informationen, die insbesondere für das Auffinden des untergetauchten Trios lange vor dem Beginn der Mordserie wichtig, wenn nicht sogar entscheidend, gewesen wären, nicht sachgerecht ausgetauscht worden sind. Diese Defizite sind auch hier wieder auf allen Ebenen festzustellen:

  • zwischen polizeilichen Einheiten innerhalb eines Bundeslandes,
  • zwischen Polizei und Verfassungsschutz innerhalb eines Bundeslandes,
  • zwischen Polizeien und Verfassungsschutzbehörden mehrerer Bundesländer und
  • zwischen den Verfassungsschutzbehörden der Länder und dem Bundesamt für Verfassungsschutz.

Diese Defizite aufzuarbeiten, dafür fehlt den bundespolitischen Koalitionären allerdings für weite Bereiche die Zuständigkeit, denn es handelt sich vielfach um Länderdefizite und damit könnte allenfalls die Innenministerkonferenz für Abhilfe sorgen. Dort hat allerdings der Bund kein Stimmrecht.

In Hinblick auf die ohnehin angespannte Haushaltslage des Bundes und der krisenhaften Kumulation von politischen Katastrophen, mit der sich die derzeitige Regierung konfrontiert sieht, kann allerdings hoffnungsfroh davon ausgegangen werde, dass viele der kostenintensiven und personalaufwändigen Einrichtungen ohnehin nicht in dem Zeitraum institutionalisiert werden können, der der derzeitigen Regierung zu Verfügung steht: wie ähnliche Vorhaben der Vorgängerregierungen werden sie im Orkus des Vergessens verschwinden. Wenn denn überhaupt unter dem Vorwand der Wissenschaftlichkeit alles bisherigen Produkte der Legislative und Exekutive überprüft werden sollen/müssen, dann gibt es sicherlich lohnendere Einsparungspotenziale. So z.B. die Frage, warum die Ampel bisher 271 Millionen für externe Berater ausgegeben hat, wobei allein das Bundesministerium des Innern 80 Verträge im Wert von 237 Millionen abgeschlossen hat. Fachkundige Kritiker meinen nicht ganz zu Unrecht, dass der Einkauf externen Sachverstands zu teuer und in Hin blick auf die die Heerschar von Mitarbeitern in den Ministerien auch nicht erforderlich sei.

Auch wenn nicht verkannt wird, dass das Papier im Bereich der inneren Sicherheit einige positive Ansätze hat, ist das Gesamtfazit für diesen Bereich eher ernüchternd. Wenn drei Koalitionäre sich zu um ein konsensuales Papier bemühen, kann nicht erwartet werden, dass sie ihre ursprünglichen gegensätzlichen Positionen aufgeben und jeder sich um die Manifestation seiner Lieblingsthemen bemüht sein wird, so dass beim eigentlichen Regierungshandeln immer wieder neue Kompromisse ausgehandelt werden müssen. So kann es nicht wundernehmen, dass z.B. bei der Vorratsdatenspeicherung und bei der Nutzung von Staatstrojanern, mit denen die Sicherheitsbehörden verschlüsselte Nachrichten mitlesen können, konträre Positionen immer wieder aufeinanderstoßen

wenn die Absichten der Koalitionäre die Stärkung der Bürgerrechte im Grunde löblich waren, darf im Grund nicht verkannt werden, dass ausweislich der in den letzten Jahren erstellten Sicherheitsreports die Sorge der Zivilbevölkerung nicht durch die tatsächlichen oder vermeintlichen Übergriffe eines übermächtigen Leviathans bestimmt wurden, sondern dass echter staatlicher Schutz vor ubiquitärer Kriminalität und ausufernder Gewalt an allen Fronten vermisst wurde. In gleicher Richtung zielt ein Arbeitspapier der Bundesakademie über Sicherheitspolitik, in dem unter Hinweis auf das Hamburger Institut für Sozialforschung ein Mangel auf strategischer Ebene festgestellt wird: „Man vermisst den uneingeschränkten Gestaltungswillen der Politik, sich den gesamtstaatlichen Ansatz zu eigen zu machen, vorhandene Erfahrungen zu bündeln und die Kohärenz der Sicherheitsarchitektur voranzubringen.“1 Führende Vertreter der Bundesakademie für Sicherheitspolitik stellten als Ergebnis eines Seminars fest, dass Deutschland in Hinblick auf die geostrategischen Rahmenbedingungen ein die Ressortpolitiken integrierendes „(…) strategisches Gesamtkonzept entwickeln [muss, d. Verf.], das die koordinierte – ressortübergreifende – Nutzung aller politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, militärischen und ökologischen Instrumente einbezieht“2 um eine kohärente Politik aller Akteure in Konfliktfällen durchzusetzen. Dazu seien der Aufbau einer strategischen Analyseeinheit der Bundesregierung und die Schaffung eines nationalen Sicherheitsberaters im Bundeskanzleramt erforderlich.“

 

Über den Autor
Bernd Walter
Bernd Walter
Bernd Walter, nach vierzigjähriger Dienstzeit in der Bundespolizei mit unterschiedlichen Verwendungen im Führungs-, Einsatz-, Ausbildungs- und Ministerialbereich als Präsident des Grenzschutzpräsidiums Ost in den Ruhestand getreten. Anschließend Vorbeitrittsberater* der EU bei unterschiedlichen Sicherheitsbehörden in Ungarn. Autor zahlreicher Fachbeiträge zu Fragen der inneren und äußeren Sicherheit.
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