Der Gasmangel-Blackout
Eine neue aktuelle Gefahr für das Krisenmanagement von Verwaltungsstäben und Notfallstäben von Unternehmen
Von Dr. rer. nat. Diplom Geograph Hans-Walter Borries
Spätestens seit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzung von Russland mit der Ukraine (24.02.2022) und den darauf ausgerichteten Sanktionen der westlichen Staaten gegen Russland rücken Gasminderlieferungen aus Russland für Europa und Deutschland in den Focus der Betrachtung eines nachhaltigen Krisenmanagements zur Prävention eines Ausfalles der Gasversorgung und deren Auswirkungen auf eine führende Industrienation wie Deutschland.
Eine Importabhängigkeit von russischen Gaslieferungen von teilweise über 50% wirft die Frage auf, was passiert, wenn die Gaslieferungen aus Russland gänzlich oder in wichtigen Größenordnungen ausbleiben (seit 27. Juli 2022 nur noch ca. 20% des täglichen Maximalkapazitäten durch Nord Stream 1).
Namhafte Fachzeitungen, wie z. B. die WirtschaftsWoche (23. Juni.2022), hinterfragten bereits vor Wochen mögliche Auswirkungen in der Gasdebatte mit Slogans wie „die Kriegsmangelwirtschaft rückt näher“ oder sahen den „Kalten Entzug vom russischen Gas – Deutschland droht ein Notstandswinter“ (Handelsblatt 08. Juli.2022).
Das Problem dieser starken Abhängigkeit von russischen Gasmengen liegt darin, dass man diese Größenordnung nicht von heute auf morgen (in wenigen Monaten), und wenn die kalte Winterjahreszeit naht, kompensieren kann. Selbst Notfallpläne vergangener Zeiten und auch bundesweite Übungen, wie z. B. die LÜKEX 2018, gingen nicht von einem „Wirtschaftskrieg ähnlichen Zustand eines weitgehenden Lieferstopps aus Russland mit flächenhaften Auswirkungen für ganz Deutschland über mehrere Monate aus, man sah eher eine punktuell begrenzte Gasmangellage z. B. aufgrund von kurzfristige Lieferengpässen oder einem lokalen Stromausfall von wenigen Stunden.
Damit stellt sich für ein gutes und vorausschauendes Krisenmanagement von Verwaltungen (Land, Kreisen und kreisfreien Städten) sowie von Notfallstäben von Unternehmen, insbesondere von den KRITIS-Sektoren, die Aufgabe, wie man diesen bisher unbekannten Zustand einer möglichen kurzfristig eintreffenden Notstandslage („Katastrophe) vorplanen und somit die Auswirkungen zumindest mildern, wenn schon nicht mehr verhindern kann.
Seit Wochen werden in der Sommerurlaubsphase aus der Politik und von Verwaltungen erste Sparvorschläge vorgebracht, die alle zum Reduzieren und Runterfahren der Heizungen auf eine Mindertemperatur, den Verzicht auf Beleuchtung, Kochen und Reduzierung der Wärme vom Duschwasser etc. aufrufen; es muss aber die Frage berechtigt gestellt werden, kann man damit die Minderleistungen aus Russland, im schlimmsten Fall („Worst Case“) von 30 bis 55%, kompensieren und was geschieht, wenn diese Maßnahmen zum Einsparen nicht den gewünschten Effekt mit sich bringen.
Eine aktuelle Studie vom Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e. V. (bdew) vom 17. März .2022) geht der Frage nach potentiellen Einsparungsbereichen im Falle einer Gasmangellage sowie Kompensationsmöglichkeiten nach und kommt zu dem Ergebnis, dass Einsparungen bei Haushalten im Bereich Heizen max. 10 bis 15% erbringen, in einzelnen Industrie-/Gewerbebrachen (einschließlich Handel) aber bei unter 10% liegen und in Summe alle Bereiche nur max. 19%, d. h. ungefähr nur 1/3 der aus Russland zu liefernden Gasmengen durch solche Sparmaßnahmen zu erreichen wären. Zu wenig um bei den derzeitigen Speichermengen von Gasspeichern in Deutschland (Stand 04. August.2022: ca. 69 %) eine Einspeichermenge von 80% zum 1. Oktober 2022 und 90 % bis zum 1. November 2022 zu erzielen und damit wenige Wochen im kalten Winter 2022/23 durchzuhalten, um laut Berechnungen der Bundesnetzagentur dann bis zum 1. Februar 2023 noch ca. 40 % Gasmengen zu haben. Erst recht, wenn der kommende Winter lang und mit extremen Tiefsttemperaturen sehr hart werden könnte.
Demzufolge sollten Krisen-/Verwaltungsstäbe und Notfallstäbe von Unternehmen die nächsten noch sommerlich geprägten Wochen nutzen, ihre Gefahrenabwehrpläne und Notfallpläne dahingehend zu hinterfragen und zu optimieren, und somit den Notfallplan „Gasmangel-Blackout-Gefahr“ als wichtige Aufgabe zur Krisenvorsorge anzuerkennen und als wichtige Aufgabe aufzunehmen. Damit verbunden gehen erstmals Bestandsuntersuchungen vor, welche Kunden in einer Gebietskörperschaft als „geschützte Kunden“ einzustufen wären, für die vorranging eine Gasversorgung in einer Mangelsituation noch machbar wäre.
Gemäß Gesetzestext wird speziell im § 53a EnWG grundlegende soziale Dienste bzw. Einrichtungen aufgeführt, wie auch in Artikel 2 Nummer 5b Erdgas-SoS-VO vorgesehen, als geschützte Kunden zu definieren. Als „grundlegende" soziale Dienste sind solche erfasst, die dem Schutz solcher Bevölkerungsgruppen dienen, und die – ähnlich wie Haushaltskunden – eine besonders hohe schutzbedürftig aufweisen. Gemeint sind Einrichtungen, bei denen eine Unterbrechung der Gasversorgung ohne besonderen Schutz zu einer weitergehenden Gefahr für Gesundheit oder Leben von Personen führen würde. Im Detail sind dies Einrichtungen in denen Menschen vorübergehend oder dauerhaft stationär behandelt werden oder leben und diese nicht ohne Weiteres verlassen können sowie Einrichtungen, die hoheitliche Aufgaben zur öffentlichen Sicherheit zu erfüllen haben:
- Krankenhäuser und Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen gemäß § 107 SGB V, stationäre Pflegeeinrichtungen gemäß § 71 Absatz 2 SGB XI,
- stationäre Hospize gemäß § 39a Absatz 1 SGB V,
- Einrichtungen zur Pflege und Betreuung behinderter Menschen gemäß § 71 Absatz 4 SGB XI,
- Justizvollzugsanstalten gemäß § 139 StVollzG, sowie
- z. B. Feuerwehr, Polizei und Bundeswehreinrichtungen, sowie die Dienststellen (und Gebäude) aller Behörden und Organisationen mit Sicherheitsaufgaben (BOS – „Blaulichtorganisationen).
Diese Zustandsprüfung sollte vorurteilsfrei durchgeführt werden, auch wenn sie ergibt, dass wichtige Gebäude (Bauten) der BOS-Organisationen selber mit Gas beheizt werden und für Kochzwecke allein (nur) Gas verwendet wird, die dann bei Ausfall der Gasversorgung durch externe Energieträger zu kompensieren wären. Die Situation durfte bei einer Gasmangel-Lage weitaus schwieriger sein als „nur“ in einem Stromausfall. Bei einem partiellen Stromausfall über wenige Stunden können fest installierte oder mobile Notstromaggregate mit ausreichend Treibstoffmengen gewisse Kompensationen übernehmen und so die Durchhaltefähigkeit sichern. Bei einem flächendeckenden und zugleich landandauernden Gasausfall sind solche Ersatzmaßnehmen kaum möglich, da mobile Gasliefer- und Heizgeräte kaum in ausreichender Menge und mit Anschlussmöglichkeiten an die Baulichkeiten zum nachträglichen Einspeisen zur Verfügung stehen.
Erschwerend kommt hinzu, dass bei einem Ausfall der Gasversorgung die Gasanschlüsse und Thermen bei Wiederhochfahren und Vollleistung des Gasnetzes sehr aufwendig gewartet werden müssen. Berechnungen aus kleinen partiellen Gasmangel-Lagen in Stadtteilen zeigen, dass – je nach Dauer des Versorgungsausfalles – die Notwendigkeit einer sog. „Gebrauchsfähigkeitsprüfung des Netzes“ besteht, welche den Arbeits- und Prüfaufwand noch weiter erhöht. Erste grobe Schätzungen einzelner Netzbetreiber weisen darauf hin, dass der Personaleinsatz von Fachkräften für die Durchführung dieser Maßnahmen um ein Vielfaches langer als bei einer Stromausfall-Lage andauernd wird. Bei jedem weiteren Ausfall der Gasversorgung müssen erneut diese Maßnahmen von Fachpersonal vor Einschalten der Anlagen aufwendig geprüft werden. Um die Dimension der Schadenslage an einem Beispiel zu verdeutlichen konnte man in WELT Online am 4. Juli 2022 nachlesen, dass bei einer Stadt von rund 100.000 Einwohnern eine flächendecke Prüfung der Gasanschlüsse – unter der Voraussetzung, dass es genügend Fachpersonal gibt, ca. 4 Monate dauern würde.
Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass wenn für ganz Deutschland die Gasmangel-Lage eintritt, kein Hochfahren des Gasnetzes in wenigen Wochen allein aufgrund des Mangels an Gas-Fachkräften mehr möglich sein dürfte.
Daher sollten speziell die öffentlichen Verwaltungen mit ihren Ordnungsbereichen (-ämtern) und die Krisen-/Verwaltungsstäbe von Land-/Kreisen und kreisfreien Städten in einen zweiten Arbeitsschritt die Ausbildung deren Stäbe auf eine solche Versorgungslage ausrichten. Es geht um die Schaffung von Wärmeinseln in Gebäuden und Hallen, um zumindest Teile der Bevölkerung, man rechnet mit Werten um 30 bis 40%, die zudem noch mobil sind, für wenige Stunden im kalten Wintertag (z. B. einer Schnee-/Eislage mit Sturm) Möglichkeiten zum Aufwärmen und zu Aufnahme von Warmverpflegung und wärmenden Getränken zu schaffen. Dabei müssen diese Einrichtungen den Corona-Schutzauflagen entsprechen und öffentlich bekannt sein und ebenso leicht zugänglich sein.
Auf die Krisen-/Verwaltungsstäbe und die Einsatzkräfte einschließlich aller BOS kommt somit eine riesige Logistikaufgabe zu. Zum einem das Herrichten und Beheizen von geeigneten Gebäuden und zum anderen das Organisieren von Nutzerströmen und die Verteilung von Lebensmitteln mittels mobiler Feldküchen. Eine Aufgabe, die wir als solche bislang nicht gekannt haben, die unsere Ur-/Großeltern in den Kriegszeiten zu Ende des Ersten Weltkrieges („Steckrübenwinter, Hungersnot“) und im Zweiten Weltkrieg in den ausgebombten Städten leider erlebt haben, die heute aber keiner mehr kennt und somit alle Erfahrungen zum Umgang mit dieser „Katastrophe“ fehlen.
Diese wichtigen Aufgaben, so negativ vom Denken als furchtbare Version belegt sind, sollten verantwortungsvolle Hauptverwaltungsbeamte (Landräte/innen, Oberbürgermeister/innen, Bürgermeister/innen) jetzt in Form von Stabsübungen mit deren Krisen-/Verwaltungsstäben und Einsatzleitungen einschließlich aller BOS ausplanen und üben. Eine besondere Aufgabe kommt dabei der Zusammenarbeit und den fachlichen Austausch mit den Notfallstäben von Stadtwerken zu, die ihre Versorgungskunden (Verbraucher = Bürger) sehr gut kennen und die im Vorfeld jetzt mit einer Aufklärungskampagne für Sparmaßnahmen und Notfallkonzepte starten sollten. Lieber rechtzeitig ein „klares Lagebild“ mit möglichen Gefahrenlagen und Einschränkungen kommunizieren als in wenigen Wochen dann den Exodus kurzfristig auszurufen.
Zugleich sollte jetzt schon informiert werden, dass bei Ausfall der Gasversorgung der Einsatz von elektrischen Heizgeräten (z. B. Konvektorheizgeräte, Ölradiatoren, Keramikheizlüfter) mit einer Leistung von 2000 bis 2500 Watt bei mehreren Millionen Haushalten und in Verwaltungen und Büroräumen von Unternehmen schnell das Stromnetz mit mehreren Gigawatt-Einheiten (20 bis 30 GW), speziell am Abend und in der Nacht belasten würde. Zu einer Zeit, da im Winter die „Dunkelflaute“ kaum Energie von Solarenergie und Windkraftanlagen zur Verfügung stehen und die geplante Abschaltung von AKW für die Stromerzeugung und das Herunterfahren von Kohlekraftwerken als wichtige Strom-, Fernwärme- und Prozessenergie noch immer nicht zurückgenommen wurde. Experten sehen unmittelbar nach dem Gasmangel-Blackout die gestiegene Gefahr eines Strommangel-Blackouts in kalten Winterwochen, der dann auch das wichtige Kommunikationsnetz zum Zusammenbruch führen lässt.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Lage derzeit sehr ernst ist und dass die wenigen Wochen noch vor dem kalten Winter für Präventions- und Krisenkonzepte genutzt werden sollten. Besonnenes Abwägen aller Risiken und ein Aufzeigen erster Lösungs- und Kompensationsmöglichkeiten sollten jetzt angegangen werden. Externe Fachberater können hierzu Hilfestellungen bei der Optimierung von Gefahrenabwehrplänen als auch Ausbildungs- und Übungskonzepten geben. Ein zielführendes Handeln im Sinne eines „guten“ Krisenmanagement ist jetzt mehr denn je gefragt.