Die DFG-Geschäftsstelle in Bonn-Bad Godesberg (2006)
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Die Polizei zwischen Wissenschaftsanspruch und Manipulation – Anmerkungen zu einer umstrittenen Studie

Polizei und Wissenschaft – nicht immer eine Liebesbeziehung

Von Bernd Walter, Präsident eines Grenzschutzpräsidiums a.D., Berlin

Wer als Polizeibeamter gelegentlich Zweifel an den Früchten wissenschaftlicher Bemühungen insbesondere aus dem Bereich der Sozialwissenschaften äußert, wenn sie denn sein Berufsfeld betreffen, begibt sich auf dünnes Eis, denn mancher Vertreter der Scientific Communitiy, der mit einer gewissen Vorliebe insbesondere die gesellschaftliche Rolle der Polizei kritisch und meistens zu deren Nachteil auf den Prüfstand stellt, reagiert ausgesprochen dünnhäutig, wenn die Polizei mit ähnlicher Kritikbereitschaft sein wissenschaftliches Wirken bedenkt.

Was wissenschaftlichen Unmut betrifft, hat die Polizei jedoch kein Alleinstellungsmerkmal. Das musste z.B. der Kabarettist und Moderator Dieter Nuhr erfahren, als er durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), dem zentralen Selbstverwaltungsorgan der Wissenschaft in unserem Lande, zu einem Beitrag für eine Jubiläumskampagne aufgefordert wurde. Dieter Nuhr veröffentlichte folgenden Videoclip: „Wissen bedeutet nicht, dass man sich zu 100 % sicher ist, sondern dass man über genügend Fakten verfügt, um eine begründete Meinung zu haben. Wissenschaft ist nämlich keine Heilslehre, keine Religion, die absolute Wahrheiten verkündet. Und wer ständig ruft „Folgt der Wissenschaft!“ hat das offensichtlich nicht begriffen. Wissenschaft weiß nicht alles, ist aber die einzige vernünftige Wissensbasis, die wir haben.“ Im Grunde stellte Nuhr lediglich fest, was jeder Wissenschaftstheoretiker ohnehin bestätigt, dass nämlich Wissenschaft für komplexe Sachverhalte keine gesicherten Wahrheiten verkündet- die Corona-Pandemie beweist dies gerade- und Unsicherheit, die Vorläufigkeit empirischer Erkenntnisse und das Aufzeigen der Grenzen die wesentlichen Legitimierungsgrundlagen von Wissenschaft sind. Dies hinderte jedoch eine beträchtliche Zahl von Wissenschaftlern nicht, viral gegen die Äußerungen Nuhrs vorzugehen, da sie sich diskreditiert fühlten, und die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die sich in ihren Satzung eigentlich zur Förderung der Wissenschaft in allen ihren Zweigen bekennt, hatte nichts Eiligeres zu tun, als den Eintrag ohne vorherige Absprache mit Nuhr zu löschen.

Nun hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft aktuell auch eine gewisse Relevanz für die Polizei, denn aus ihrem Jahresbudget von 3,3 Milliarden Euro, das fast ausschließlich aus Steuergeldern besteht, finanziert sie das umstrittene auf zwei Jahre angelegte Projekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“ (KviAPol) des Lehrstuhls für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaften an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität. Dabei wird von Fachleuten die Intransparenz bei der Vergabe von Fördermitteln ohnehin bemängelt. Firmiert das Projekt mit der Nummer 361231439 auf der Detailseite der DFG noch unter dem eher unverfänglichen Titel „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte, Viktimisierungsprozesse, Anzeigeverhalten, Dunkelfeldstruktur“, so haben die beiden zwischenzeitlich ergangenen Zwischenberichtbei bereits einen anderen Zungenschlag. Jetzt ist suggestiv und assoziativ unter bewusster Verwendung des Topos „Gewalt“ in den Überschriften von „Polizeiliche Gewaltanwendung aus der Sicht der Betroffenen“ bzw. „Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Kontext polizeilicher Gewaltausübung“ die Rede. Bereits die Überschriften sind Programm; sie signalisieren nicht wissenschaftsbasierte Meinung, sondern meinungsbasierte Wissenschaft. Es war in diesem Zusammenhang nicht möglich, die für das Forschungsprojekt von der DFG bereitgestellte Summe sowie den Inhalt der beiden Gutachten zu erfahren, die für die Einreichung und Genehmigung des Projektes erforderliche waren

Aus Sicht der Polizei hätte es im Bereich der inneren Sicherheit -wenn es um das Phänomen Gewalt geht- wahrlich lohnendere und vordringlichere Forschungsprojekte gegeben.

verbrannte Polizeiautos nach einem Brandanschlag in der Innenstadt von Magdeburg am 08.September 2016.
© stock.adobe.com/Von Heiko Küverling

So z.B. zu den Ursachen und Auswirkungen der Verrohung in der Gesellschaft, in der Hass, die Hetze sowie die Bedrohung und Aggressionen gegen Hoheitspersonen, Amtswalter und Mandatsträger unterschiedlicher Couleur und selbst gegen Hilfskräfte bei Unfällen zwischenzeitlich derart bedrohliche Dimensionen angenommen haben, dass die Städte- und Gemeindetage den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht und sich gezwungen sahen, im Zusammenwirken mit dem Nationalen Zentrum für Kriminalprävention eine Handreichung zur Bekämpfung von Hasskriminalität herauszugeben. Zudem scheint der Tipping point erreicht, das Stadium, in dem eine Entwicklung irreversibel wird, Gegenstrategien immer weniger Erfolge versprechen. Bei diesem Thema sind allerdings fundierte Analysen der sonst so schreibfreudigen Sozialwissenschaftler zu Ursachen und Konsequenzen zunehmender Gewalt als soziales Phänomen eher Mangelware, da in der Scientific Community die Teilnahme am allgemeinen Polizeibashing eher billigen Beifall verspricht als die Parteinahme für die Beamtenschaft.

Zur Entstehungsgeschichte des Projektes

Zum Initiator des Projektes, dem Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft der Ruhr-Universität, scheinen zum weiteren Verständnis einige Anmerkungen angebracht. Dieser Lehrstuhl bietet den weiterbildenden Master „Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft“ an, bei dem es sich um einen berufsbegleitenden, interdisziplinären Masterstudiengang handelt, der in einem zweijährigen Blended-Learning-Studium Grundlagen, aktuelle Forschungsergebnisse sowie empirische Methoden in Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft vermitteln soll und von interessierten Jungpolizisten zunehmend häufiger zur Verbesserungen ihrer Karriereambitionen genutzt wird. Langjähriger Lehrstuhlinhaber von 2002 bis 2019 war der nunmehr emeritierte Professor Thomas Feltes, dem Professor Tobias Singelnstein nachfolgte. Beide Universitätslehrer als enthusiastische Verteidiger polizeilicher Belange zu bezeichnen, wäre ausweislich ihrer zahleichen polizeikritischen Veröffentlichungen ein milder Euphemismus. Als kürzlich ein kurzes Video über einen umstrittenen Polizeieinsatz in der Düsseldorfer Altstadt im Netz viral ging, bewertete Feltes das Vorgehen umgehend ohne nähere Kenntnisse der Einsatzumstände als einen Fall, mit dem sich die Anti-Folter-Kommission des Europarats beschäftigen müsse, und Singelnstein forderte wegen der „starken Binnenkultur“ bei der Polizei die Aufklärung statt durch Polizei oder Staatsanwaltschaft durch neutrale Stellen. Soweit zum erkenntnisleitenden Interesse.

Dieser Lehrstuhl schickt sich nun nach eigenem Bekunden an, mit seiner im März 2018 gestarteten Studie Viktimisierungsprozesse, Anzeigeverhalten und Dunkelfeldstruktur im Bereich der Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte im Rahmen einer quantitativen Opferbeteiligung zu untersuchen, da dieser Phänomenbereich bislang empirisch nicht erforscht wurde, praktisch keine Erkenntnisse vorlägen und das Thema angeblich die öffentliche Debatte intensiv beschäftige. Der erste Teil des Projektes, zu dem am 17. September 2019 ein erster Zwischenbericht veröffentlich wurde, enthält die Daten einer quantitativen Opferbefragung, der zweite Zwischenbericht, der am 11. November 2020 vorgestellt wurde, sollte ursprünglich die Auswertung von Expertenbefragungen in Form qualitativer Interviews enthalten. Das Projekt soll bis Ende Januar 2021 laufen, um dann mit belastbaren Daten zu Viktimisierungsverhalten, Aufarbeitung, Dunkelfeld und Anzeigeverhalten aufwarten zu können. Der wissenschaftliche Beirat des Projekts besteht aus Vertretern von Opferverbänden, Menschenrechtsorganisationen, der Strafverteidigung, der Polizei und der Sozialwissenschaften, wobei der praktizierende Polizist unterrepräsentiert ist. Die Mitglieder sind nicht Teil des Projekts, sondern haben im Wesentlichen die Aufgabe, Anregungen zu geben und als Ansprechpartner für methodologische Fragestellungen zu sein.

Wer als Polizeibeamter sich der Mühe unterzieht, die beiden Zwischenberichte durchzuarbeiten, muss in hohem Maße stressstabil sein, denn die beiden Abhandlungen machen dem an die Präzision der Rechtssprache und der polizeilichen Einsatzlehre gewohnten Polizeibeamten wegen ihrer Kumulation von gegenderten Satz- und Wortungeheuern und dem Soziologenvokabular das Lesen zur Tortur. Schwerer als diese aus den Sozialwissenschaften ohnehin gewohnte Verfahrensweise wiegt aber die Tatsache, dass durch Wortwahl und ständige Wiederholung bestimmter Begriffe eine bestimmte Tendenz suggeriert wird. Ließ die ursprüngliche Titulierung des Forschungsprojektes, „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamte“ wegen der Bezugnahme auf eine juristisch eindeutige definierte Kategorie zumindest ein einigermaßen objektives Framing des Projektes erhoffen, wartet die Studie in den beiden vorliegenden Zwischenberichten nunmehr mit den Überschriften „Polizeiliche Gewaltanwendung aus der Sicht der Betroffenen“ bzw. „Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Kontext polizeilicher Gewaltausübung“ auf. Die mit diesen Formulierungen verbundene suggestive und denunziatorische Absicht wird noch dadurch verstärkt, dass in den Texten ständig wiederholend von „rechtswidriger Polizeigewalt“ die Rede ist. Bereits durch die Wortwahl wird vorausgesetzt, was eigentlich analysiert werden soll, ein Verfahren, dass schon seit dem Mittelalter als Petitio principii, als Zirkelschluss, verpönt ist.

Begünstigt wird die abwertende Tendenz dadurch, dass im Verständnis weiter Teile der Bevölkerung das der Polizei zugeschriebene Gewaltmonopol nicht mit der Durchsetzung von polizeilichen Maßnahmen gegen den Willen des Pflichtigen mit Mitteln des unmittelbaren Zwanges assoziiert wird, sondern als schädigende Einflussnahme auf andere verstanden wird. Diese Deutung rührt daher, dass das Kompositum Gewaltmonopol als Prinzip weder verbindlich definiert noch verfassungsrechtlich verortet ist und selbst in Kommentaren zum Grundgesetz ohne nähere Begründung als selbstverständliche Voraussetzung für Rechtsstaatlichkeit begriffen wird. Dabei hat der auf den Soziologen Max Weber zurückgehende Begriff andere Wurzeln. Weber ging es weniger um Gewalt als vielmehr um die Charakterisierung politischer Verbände: „Staat soll ein politischer Anstaltsbetrieb heißen, wenn und insoweit sein Verwaltungsstab erfolgreich das Monopol legitimen physischen Zwanges für die Durchführung der Ordnungen in Anspruch nimmt.“1 Er benutzte wohlbemerkt den Terminus „legitimer physischer Zwang“, nicht „Gewalt“. Das hindert die Literatur nicht, zum komplexen Phänomen Gewalt ein Vielzahl von Deutungen und kontroversen Begriffsinhalte anzubieten, wobei man sich noch nicht einmal einig ist, ob Gewalt eine anthropologische Konstante oder die Umschreibung eines sozialen Phänomens ist. Offensichtlich entzieht sich der Begriff in der Diskussion einer verbindlichen Einordnung, zumal er normativ aufgeladen ist sowie politisch instrumentalisiert und medial häufig genug skandalisiert wird. Allenfalls kann Gewalt als Folge sozialer Asymmetrien begriffen werden, da bei Konflikten in gegebenen Strukturen eine konsensuale Lösung häufig nicht möglich ist, mit der Folge, dass dann unter Umständen gegenseitig Zwang ausgeübt wird und letztendlich ein Schlichtungsorgan tätig werden muss. In der Regel ist das die Polizei.

Der erste Zwischenbericht - mehr Behauptung als Beweis

Da sich die Ersteller der Studie außerstand sahen, durch Aktenanalysen, Fallstudien, teilnehmende Beobachtung oder Auswertung amtlicher Statistiken das Dunkelfeld aufzuhellen, wählte man den Weg einer quantitativen Betroffenenbefragung auf der Grundlage von Selbstselektion, da aus methodischen Gründen eine Stichprobenziehung bei einer zufällig ausgewählten Population nicht in Frage kam. Bei diesem Verfahren entscheidet die Person im Gegensatz zu systematischen Stichprobenverfahren selbst, ob sie zur Stichprobe gehört. Die Ansprache und Rekrutierung von Betroffenen erfolgten über eine gezielte Online-Befragung, wobei man sich eines Schneeballverfahrens und des Einsatzes sogenannter Gatekeeper bei gleichzeitiger intensiven Nutzung von Flyern und der Sozialen Medien bediente. Besondere Erkenntnisse erwartete man von fünf Gruppen: gesellschaftlich marginalisierte Personen, Fußballfans, politisch aktive Personen, Medienvertreter und nicht-organisierte Personen. Die Studie umfasst im ersten Teil eine quantitative Opferbefragung per Onlinefragebogen, im zweiten Teil sollten Experteninterviews folgen. In der Online-Untersuchung wurden bei 11 500 Zugriffen 5.677 Personen befragt, die Angaben von 3375 Betroffenen fanden nach Bereinigung der Daten Eingang in die Studie.

Am Verfahren ist in mehrfacher Hinsicht von den Berufsvertretungen der Polizei, aber auch von Einzelpersonen Kritik geübt worden, die die aufgestellten Thesen und die Verallgemeinerung von Einzelfällen zum Systemproblem für fragwürdig halten, zumal die initiierenden Lehrstuhlinhaber der Studie von der Ruhr-Universität sich bisher eher gegen als für die Polizei positionierten. Gravierender sind jedoch die Einwände gegen die eigentliche Methodik, da die Befragten selbst, durch die suggestive Fragestellung begünstigt, definierten, was sie unter rechtswidriger Gewalt verstehen. Zu einem derartigen Verfahren hat sich bereits der Schweizer Gewaltforschers Alberto Godenzi kritisch geäußert: „Wer welche Handlung, welches Ereignis, welche Institution als gewalttätig definiert, hängt entscheidend vom sozialen Ort der evaluierenden Person ab. Gewaltdefinitionen sind Werturteile, auch dann, wenn die Forschenden die Bestimmung und den Bedeutungszusammenhang der Gewalt den unmittelbar beteiligten Personen überlassen.“2

Die Form der willkürlichen Stichprobenziehung durch Selbstselektion beinhaltet methodologische Probleme und unterliegt verschiedenen Verzerrungen, sozialwissenschaftlich als Self Selection Bias (self selection gleich Selbstauswahl, bias gleich Verzerrung) bezeichnet. Obwohl häufig bei Online-Befragungen genutzt, ist die Stichprobe bei diesem Auswahlverfahren nicht repräsentativ und lässt keinen Rückschluss auf die Gesamtheit zu. Die Auswahlwahrscheinlichkeit wird durch individuelle Faktoren der Befragten, deren persönliche Interessen und Vorerfahrungen sowie Umfang und Möglichkeit der Internetnutzung bestimmt. Weicht die Meinung der befragten Gruppe deutlich von der Zielpopulation ab, sind kaum valide Rückschlüsse auf das Verhalten der Grundgesamtheit möglich.

Bei den untersuchten Sachverhalten handelt sich durchweg um Verdachtsfälle, nicht um nachgewiesene rechtswidrige Übergriffe. Eine juristische Überprüfung und eine Schlüssigkeitsprüfung fanden nicht statt, zumal den Befragten Anonymität zugesichert wurde. Es handelt sich um subjektive Einschätzungen der Betroffenen. Die Umstände und Interaktionen, die zu vermeintlicher Gewaltanwendung führten, blieben unbekannt, so dass davon auszugehen ist, dass in der Stichprobe auch rechtmäßiger Zwang in nicht bekannter Zahl enthalten ist. Mithin wurde nicht die tatsächliche Zahl möglicher Körperverletzungen im Amt -darum geht es ausweislich der Überschrift- ermittelt, sondern die Zahl der Vorfälle, die von Betroffenen als Gewalt empfunden wurden.

verbrannte Polizeiautos nach einem Brandanschlag in der Innenstadt von Magdeburg am 08.September 2016.
© stock.adobe.com/Von Heiko Küverling

Dass die meisten Betroffenen Gewalt bei politischen Veranstaltungen und im Zusammenhang mit Fußballspielen erlebten, kann als tragende Erkenntnis nur denjenigen verwundern, an dem die Gewalteskalation im öffentlichen Raum vorbeigegangen ist. Auch wurde nicht überprüft, inwieweit besonders involvierte Gruppierungen wie z.B. linksorientierte gewaltaffine Gruppierungen oder die Fangruppen im Fußballbereich gezielt die Befragungsaktionen steuerten und z.B. durch Mehrfachnennungen Einfluss auf das Ergebnis nahmen. Selbst die Projektleitung musste zugegeben, dass es sich bei den meisten Anlässen um „etablierte Konfliktverhältnisse“ handele, denen bekanntlich Auseinandersetzungen mit der Polizei immanent sind. Auf die Ausgangsfaktoren der jeweiligen Konfliktsituationen wurde erst gar nicht eingegangen.

Da auch Wissenschaftler nicht frei von Eitelkeit sind, wurde von Initiatoren der Studie offensichtlich besonderer Wert auf eine offensive Pressearbeit gelegt, denn bereits 2018 wurde in zwei Pressemitteilungen für das Projekt geworben und 75 Journalisten über das Vorhaben informiert. Obwohl die Studie erst 2021 mit einer Expertenanhörung abgeschlossen werden soll, wurde von der Forschungsgemeinschaft bereits im Spätsommermedienloch 2019 ein Zwischenbericht auf den Medienmarkt geworfen, der ein hohes Dunkelfeld bei rechtswidriger Gewalt durch Polizeibeamte suggerierte. 3 Das Dunkelfeld sei gewaltig groß, nur einer von sechs Fällen werde -konservativ geschätzt- überhaupt bekannt.4 Der Erfolg bleib nicht aus. Landauf, landab berichteten die Medien oftmals mit reißerischen Überschriften und verstiegen sich zum Teil mit pauschalen und undifferenzierten Darstellungen zu rechtsstaatlichen Untergangsszenarien, die sich insbesondere in linksorientierten Medien bis zu grotesken Behauptungen steigerten, dass Polizisten in Deutschland quasi straffrei agierten. Dass von den Initiatoren bei der Medienarbeit nicht auf die evidenten Defizite der Untersuchung eingegangen wurde -fehlende Repräsentativität des Samples und damit Unzulässigkeit der Übertragung auf die Gesamtbevölkerung sowie bloße Wiedergabe der Perspektiven der Betroffenen- wurde erst gar nicht problematisiert.

Der zweite Zwischenbericht – von Systematik keine Rede

Der zweite Zwischenbericht wurde am 11. November 2020 vorgelegt und zeichnete sich dadurch aus, dass er keinen der im Vorfeld und im ersten Zwischenbericht zugesagten Weiterführungen gerecht wurde. Dies gilt insbesondere für die Verheißung, die Einschränkung und Widersprüche des ersten Zwischenberichts durch kompensierende Datengenerierung im Rahmen einer Experten-Befragung auf den Prüfstand zu stellen und den Kontext des polizeilichen Bearbeitungsprozesses zu untersuchen. Bereits die Überschrift „Rassismus und Diskriminierungserfahrungen im Kontext polizeilicher Gewaltausübung“ deutete an, dass die vom Fachmann heiß erwarteten Experteninterviews nicht auf einem Premiumplatz des Vorhabens standen, sondern Kontextfaktoren wie Rassismus und Diskriminierung diskutiert wurden, zwei Konstrukte, die jedes für sich einer gesonderten Studie bedurft hätte. Ursprünglich waren 63 Experteninterviews vorgesehen: 63 Interviewpartner aus der Zivilgesellschaft, 20 aus dem Bereich der Justiz und 22 von der Polizei. Für den Bericht wurden 17 Interviews herangezogen, wobei neun Personen aus der Zivilgesellschaft interviewt wurden sowie acht Polizeibeamte. Besonders irritierend wirkt, dass ohne nähere Begründung die justizielle Nachbereitung nicht in die Interviews einbezogen wurde, obwohl der erste Zwischenbericht noch vollmundig ankündigte, dass die Interviews mit Personen aus der Justiz darauf abzielen, ergänzende Erkenntnisse zur besonderen Erledigungspraxis bei einschlägigen Ermittlungsverfahren zu gewinnen.

Thomas Feltes (2011)
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Gemeinhin geht man davon aus, dass Experteninterviews ein besonderes sonst nicht verfügbares spezialisiertes Wissen durch Personen vermitteln, die entweder ausgewiesene Fachleute innerhalb ihrer Organisation sind oder durch besondere Expertise außerhalb der jeweiligen Organisation Anerkennung gefunden haben. Diesen Personenkreis unterstellt man aufgrund von Praxis- und Erfahrungswissen einen privilegierten Zugang zum untersuchten Handlungsfeld sowie hohe Feldkompetenz in Hinblick auf Entscheidungsprozesse und Problemlösungen. Die von den Initiatoren aufgebotenen Interviewpartner aus der Zivilgesellschaft entstammten Anlaufstellen für marginalisierte Gruppen sowie Opferberatungs- und Dokumentationsstellen ergänzt durch einen Journalisten. Ausweislich der bisher bekannt gewordenen Veröffentlichung dieser Organisationen ist eher eine polizeikritische Einstellung zu vermuten.

Die Belange der Polizei wurden durch eine Führungskraft, zwei interne Ermittler und fünf Polizeibeamte aus dem Wach- und Wechseldienst vertreten. Bei dieser Auswahl ist nicht nur die geringe Zahl der polizeilichen Interviewpartner erstaunlich, sondern auch die Verwendungsbereiche, die für die von Initiatoren genannten Hauptanlässen für gewaltsame Übergriffe der Polizei (politische Veranstaltungen und Fußballspiele) nicht gerade einsatzbestimmend sind. Dabei fiel wie bei ähnlichen Studien auch die Tatsache unter den Tisch, dass immer von der Polizei die Rede ist, obwohl die Bundesrepublik über 16 unterschiedliche Länderpolizeien und zwei Bundespolizeien mit vielfältiger Diversifizierung und je unterschiedlichen Einsatzphilosophien in Abhängigkeit von der politischen Orientierung der jeweiligen Regierungskoalition verfügen und die keiner Generalisierung zugänglich sind.

Zum Vergleich: Bei einer Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen über Gewaltviktimisierung von Polizeibeamten aus dem Jahre 2010 nahmen allein zehn Bundesländer mit Polizeibeamten aus sieben unterschiedlichen Verwendungsbereichen teil. Im konkreten Fall erfolgte die Rekrutierung der polizeilichen Interviewpartner durch Anfragen bei allen Länderinnenministerien und dem Bundesinnenministerium. Nur 12 von 17 Ministerien erteilen eine Interviewgenehmigung, wobei teilweise die Teilnehmer bestimmt wurden, teilweise aber auch aus eigener Initiative teilnehmen konnten. Da die Details der Interviews nicht bekannt sind, kann nicht nachvollzogen werden, worin die besondere Expertise der Befragten für Fragen polizeilicher Gewaltausübung und rassistische Diskriminierung bestand. Wenn aber in Hinblick auf die Sensibilität des Themas der gesamten Studie und die emotionale Aufladung der Rassismusdebatte ein Interviewter ausführt, dass er in einem Bereich mit hoher Migrationsrate wahrscheinlich „schneller zuhaut“ als in einem anderen Stadtbezirk oder ein anderer Interviewpartner von Einsätzen berichtet, bei denen gezielt gegen Prof. Dr. Tobias Singelnstein
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farbige oder türkischstämmige Personen vorgegangen wird, wobei gezielt Kleinigkeiten zum Anlass genommen werden, um Situationen aufzubauschen oder Handeln zu provozieren, darf man sich einerseits nicht wundern, dass die Verfasser der Studie bei der Polizei nicht nur individuelles Handeln nach Stereotypen, sondern auch ein grundsätzliches rassistisches Strukturproblem vermuten. Dies allerdings begünstigt durch unbedachte Äußerungen von Polizeibeamten, die die Sprengkraft ihrer Äußerungen offensichtlich nicht erkannten oder intellektuell dem Interview nicht gewachsen waren.

Ansonsten sind die auf dünner Datenbasis generierten Erkenntnisse eher banal. Sie beziehen sich auf unterschiedliche Diskriminierungserfahrungen bei bestimmten Personengruppen, die mangelnde Bereitschaft zur Anzeigenerstattung sowie unterschiedliche Wahrnehmungsperspektiven bei Polizei und Betroffenen. Immerhin waren die Autoren der Studie so objektiv zu bekennen, dass die Größe des Problems anhand der vorliegenden Daten nicht beurteilt werden kann und es weiterer Forschung zu diesem Themenfeld bedarf. Auch mussten sie anerkennen, dass Rassismus ein gesamtgesellschaftliches und alltägliches Problem ist, das sich aber bei der Polizei in besondere Weise auswirkt.

Keine Studie ohne Gegenstudie

In Hinblick auf die Tatsache, dass die Polizei ständig kritischer Betrachtung durch berufsfremde Kreise ausgesetzt ist und diese dann im Wege des Agenda Setting die Schlagzeilen der Medien bestimmen, sollte die Polizei prüfen, ob sie sich nicht verstärkter selbst in die Themensetzungsfunktion einbringt. Bisher wurde diese Rolle großzügig den Berufsvertretungen und einigen fachliterarischen Einzelkämpfern überlassen. Auch hier sollte die Polizei-wie es bei der Beurteilung der Lage so anschaulich heißt- vor die Lage kommen und selbst antizipierend die Meinungsführerschaft bestimmen, bevor die thematischen Brandsätze von anderen geworfen werden, zumal sie qua professionem in vielen Fällen mit gesellschaftlichen Konflikten und den eigenen Problemen besser vertraut ist als Wissenschaftler im Elfenbeinturm. Die Themen brennen auf den Nägeln: Fehlermanagementkultur, Rassismusdebatte, Gewalt durch und gegen die Polizei, Notwendigkeit von Polizeibeauftragten, Extremismus in der Polizei, politische Misstrauenskultur bestimmter Parteien, Korpsgeist und Schweigekartelle, Belastungsfaktoren in der Polizei, deviantes Verhalten von Polizeiangehörigen oder Missbrauch der Polizei als Mechanismus zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. Auch wenn die Ergebnisse dieser Selbstreinigungsrituale im Einzelfall schmerzen sollten, dokumentieren sie doch, dass die Polizei nicht der moralisierenden Anschubfinanzierung durch Gesinnungskartelle bedarf, deren Motivation nicht immer von objektiver Lauterkeit bestimmt ist. Die Vorschläge der GdP, diesbezügliche Forschungen zu institutionalisieren und eine Kommission aus Vertretern der Wissenschaft, der Gewerkschaft und Personalvertretungen, von zivilgesellschaftlichen Gruppierungen, der polizeilichen Praxis und der polizeilichen Lehre zu bilden, zielt in die richtige Richtung und hat bereits erste Erfolge erzielt. Im Maßnahmenkatalog des Kabinettausschusses zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus vom 25. November 2020 wird beim Bundesinnenministerium unter lfd. Nummer 13 ein Forschungsprojekt zur Untersuchung des Polizeialltags und unter Nummer 15 eine Forschungsstudie zu Alltagsrassismus unter Einbeziehung von Zivilgesellschaft , Wirtschaft, Unternehmen und öffentlichen Institutionen angekündigt. Zwischenzeitlich ist bei Finanzierung durch das Bundesinnenministerium der Projektauftrag MEGAVO (Motivation, Einstellung und Gewalt im Alltag von Polizeivollzugsbeamten) an die die Deutsche Hochschule der Polizei ergangen.

Was kann nun die Polizei von der Wissenschaft erwarten?! Sie kann beim Projekt MEGAVO durch eine Vollerhebung bei allen Polizeien des Bundes und der Länder und den Einsatz qualifizierter Experteninterviews und eines geeigneten Methodenmix erwarten, dass verlässlich Erkenntnisse über Berufsalltag und Werteorientierung von Polizeibeamten generiert werden, zumal sich das Vorhaben sich über 36 Monate erstreckt. Das Projekt kann überdies Best-Practice-Modelle und Handlungsempfehlungen entwickeln, mit denen Arbeitszufriedenheit und Motivation der Polizeibeamten verbessert und die Roststellen ihres Berufes bereinigt werden können. Das Projekt kann ferner als Korrektiv zum Projekt der Ruhr-Universität dienen, da es frei von ideologischen Vorannahmen eine echte Tiefenbohrung im Bereich des gesellschaftlichen Stellenwerts der Polizei vornehmen könnte.

Hauptnachteil der Studie der Ruhr-Universität ist weniger der Inhalt als vielmehr die mediale Vermarktung. Es bleibt abzuwarten, ob die Veranlasser der Studie, statt abschließend mit einer sorgfältigen und wissenschaftlich abgesicherten Schlüssigkeitsprüfung aufzuwarten, durch ihr voreiliges Auftreten auf dem Markt der Eitelkeiten der Polizeiwissenschaft und letztlich der Kriminologie und ihrem ohnehin umstrittenen Ruf einen guten Dienst erwiesen haben, zumal sie selbst erkannten, dass das von ihnen gewählte Screening keine verlässlichen Daten liefert. In beiden Zwischenberichten sind bisher keine verwertbaren Aussagen über die situativen Faktoren „rechtswidriger polizeilicher Gewaltanwendung“ und die Gründe für die besondere staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Erledigungspraxis zu finden, obwohl diese als Unterpunkte bei der der Bekanntgabe des Erkenntnisinteresses ausdrücklich genannt wurden.

Die Verfasser leben von der erstaunlichen Tatsache, dass Medien offensichtlich gerade der Kriminologie wegweisende Kompetenz in praktischen Sicherheitsfragen zubilligen, obwohl ihre Vertreter meistens berufsfremd sind. Wer in Anspruch nimmt, dass Wissenschaft unabhängig ist und zu vernunftbestimmten Fortschritt und zu informierter Meinungsbildung führt, muss dies auch in Wort und Tat beweisen, stets eingedenk des Eingangsstatements von Nuhr, dass Wissen nicht bedeutet, dass man sich zu 100 Prozent sicher ist und Wissenschaft nicht alles weiß. Mit einer seriöseren und dezenter vermarkteten Studie hätte man tatsächlich neue Erkenntnisse für Aus- und Fortbildung der Polizei gewinnen können. Stattdessen hat man erneut durch wissenschaftliches Scheinhandeln die Polizei und damit den gesamten Rechtsstaat ins Zwielicht gestellt und jeden ergiebigen Diskurs über das Generalthema durch eilfertige Verdachtsrhetorik vorzeitig beendet. Geben wir den Verantwortlichen eine Chance. In einer Internetmitteilung kündigen sie an, dass der abschließende Bericht empirisch fundierte Aussagen über Fehlverhalten bei polizeilicher Gewaltausübung, differenzierte und belastbare Daten zu Viktimisierungsrisiken, zur Aufarbeitung des Dunkelfeldes und zum Anzeigeverhalten in diesem Deliktsbereich ermöglichen werden. In leichter Abwandlung eines Wortes: Nicht an ihren Worten, an ihren Ergebnissen sollt ihr sie dann messen!

 

Quellen:

1  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft,1922, § 17.
2  Godenzi, Gewalt im sozialen Nahraum, 1994, S. 34.
3  Abdul-Rahman u.a., Polizeiliche Gewaltanwendungen aus der Sicht der Betroffenen, 17.9.2019 unter www.kviapol.rub.de.
4  Schwarzwald, Polizeigewalt wird untersucht, Berliner Morgenpost, 18. 9.2019, S. 4.

 

Über den Autor
Bernd Walter
Bernd Walter
Bernd Walter, nach vierzigjähriger Dienstzeit in der Bundespolizei mit unterschiedlichen Verwendungen im Führungs-, Einsatz-, Ausbildungs- und Ministerialbereich als Präsident des Grenzschutzpräsidiums Ost in den Ruhestand getreten. Anschließend Vorbeitrittsberater* der EU bei unterschiedlichen Sicherheitsbehörden in Ungarn. Autor zahlreicher Fachbeiträge zu Fragen der inneren und äußeren Sicherheit.
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