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Telegram logo and lettering on a smartphone. In background german lettering like Hass, Hetze, Rechtsextremist, Querdenker, Hassbotschaften
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Gewaltbereite „Querdenker“ und Rechtsextremisten – Potenzial für stochastischen Terrorismus?

Von Prof. Dr. Stefan Goertz, Hochschule des Bundes, Bundespolizei

Dieser Beitrag untersucht den Themenbereich Corona-Pandemie, gewaltbereite „Querdenker“ und Rechtsextremisten, Tötungsaufrufe auf Telegramm, enthemmte Sprache in den Sozialen Medien und das Potenzial für stochastischen Terrorismus. Die Untersuchung der Strategie von stochastischem Terrorismus zeigt, dass diese in der Vergangenheit bereits zu zahlreichen Mordversuchen und Morden geführt hat. Hier wird diese Strategie und ihre „Logik“ besprochen.

Tötungsaufrufe auf Telegram

Seit Mitte November 2021 gibt es in gewaltbereiten „Querdenker“-Szene auf Telegram täglich Tötungsaufrufe gegen Politiker, Wissenschaftler, Ärzte, Behördenmitarbeiter und Journalisten. Für eine Recherche für tagesschau.de wurden 230 Kanäle bzw. Chats auf Telegram aus rechtsextremistischen und Querdenker-Kreisen nach folgenden Begriffen durchsucht: „Galgen, erschießen, aufhängen, hängen, aufgehängt, aufhängt, Laterne, Laternenmast, Guillotine, abknallen, hinrichten, abfackeln, abbrennen, brennen, standrechtlich, Fensterkreuz, ‚Nürnberger Hinterhöfe‘, Standgericht, hingerichtet, Tribunal, Kugel, Strick“.1 In 33 Kanälen bzw. Chats gab es Treffer. In den untersuchten Chaträumen wurden mehr als 250 Tötungsaufrufe gefunden, was jedoch lediglich die Spitze des Eisberges darstellt, weil sich Telegram - anders als Twitter - nicht komplett durchsuchen lässt, sondern nur die Kanäle und Chats, in denen man selbst Mitglied ist. Die meisten Chatgruppen sind geheim und können nur mit einem Einladungslink betreten werden.2 Häufig wurden die Tötungsaufrufe gar unter dem mutmaßlichen Klarnamen verbreitet, Widerspruch gab es gar in den großen Chats mit über 50.000 Mitgliedern beinahe nie, eher wurden die aufrufenden Personen noch in ihrer Meinung bestätigt und ein Galgen oder ein Scharfschützengewehr in den Kommentaren hinterlassen.3 Politiker wie Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, Bundesjustizminister Marco Buschmann, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder, der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz, Bundeskanzler Olaf Scholz, der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn und der amtierende Gesundheitsminister Karl Lauterbach wurden in jenen Chats wiederholt als Ziele von Tötungsaufrufen genannt. Ein Tötungsaufruf gegen Polizisten lautete: „Diese widerwärtigen Söldner des Faschismus. Jeder Polizist, der sich weiterhin an diesem Treiben beteiligt gehört, wenn mit diesem System Schluss ist, vor Gericht, in Festungshaft und an den Galgen. Tut mir leid für die deutlichen Worte, aber diese Schweine sind für mich nicht mehr länger Teil unserer Menschenfamilie. Es sind seelenlose, programmierte Menschenmaschinen“.4 Die für tagesschau.de durchgeführte Recherche stellte fest, dass es seit dem Beginn der Impfpflichtdebatte deutlich mehr Tötungsaufrufe gab.

Auf Telegram wurde der Mord am 18. September an einem Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein, der zum gesetzlich angeordneten Tragen Corona-Mund-Nasen-Schutz aufgefordert hatte, von verschiedenen Extremisten teilweise verherrlicht: „Kein Mitleid. Die Leute immer mit dem Maskenscheiß nerven. Da dreht irgendwann mal einer durch. Gut so“, hieß es dort unter anderem.5

Stochastischer Terrorismus – Strategie, Prinzip, Logik, Morde und Mordversuche

Der Begriff „stochastischer Terrorismus“ (von stochastisch, zufallsabhängig) beschreibt eine terroristische Strategie, durch welche massenhaft verbreitete Botschaften, medial und über soziale Netzwerke, die sich nicht an einen konkreten Täterkreis richten, durch extremistische Narrative und enthemmte Sprache tatsächliche Gewalt, bis hin zu terroristischen Anschlägen, provozieren (sollen). Diese terroristische Strategie ist auf Trittbrettfahrer, auf Einzelakteure oder Kleinstzellen ausgerichtet.6

Hamm und Spaaij beschreiben das Phänomen stochastischer Terrorismus in „The Age of Lone Wolf Terrorism“ kurz mit „Nutzung von Massenmedien, um zufällige Akte ideologisch motivierter Gewalt zu provozieren, die zwar statistisch vorhersagbar sind, im konkreten Einzelfall jedoch nicht“.7 Die Autoren verwenden das Bild eines Bogenschützen, um die Logik des stochastischen Terrorismus zu erklären: „Stellen Sie sich einen Bogenschützen vor, der hundert Pfeile auf ein Ziel schießt und nur einmal ins Schwarze trifft. Ein Mal. Der Treffer ins Schwarze ist statistisch nicht vorhersehbar, aber es ist statistisch vorhersehbar, dass eine bestimmte Anzahl von Pfeilen irgendwo auf der Zielscheibe trifft. Der Bogenschütze muss nicht geschickt im Bogenschießen sein. Er muss lediglich immer wieder Pfeile auf die Zielscheibe schießen, und irgendwann wird einer davon treffen. In dieser Analogie ist der stochastische Terrorist der Bogenschütze, der Brandbotschaften an Tausende, wenn nicht Millionen von Menschen schickt, die diese Botschaften konsumieren. Der Volltreffer ist der eine Konsument, der die Botschaften nutzt, um gewalttätiges Handeln zu rechtfertigen“.8

Cohen verwies im Jahre 2016 darauf, dass das Phänomen von stochastischem Terrorismus bereits ca. 15 Jahre alt sei und spricht von stochastischem Terrorismus als Strategie „using language and other forms of communication to incite random actors to carry out violent or terrorist acts that are statistically predictable but individually unpredictable”9. Cohen nutzte das Bild der „dog whistle“ bzw. das Konzept „Hundepfeifen-Politik“. „Hundepfeifen-Politik“ ist ein Konzept des Nutzens politischer Botschaften und Aussagen, die je nach Publikum unterschiedlich verstanden werden können. Winkler gebrauchte in diesem Zusammenhang 2016 in der Neuen Zürcher Zeitung in Bezug auf den damaligen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump den Begriff „codierte Sprache“.10 Sprich: Bei der „codierten Sprache“ der „Hundepfeifen-Politik“ wird eine Sprache genutzt, deren wirkliche Bedeutung nur denjenigen klar wird, die das entsprechende Gehör haben. Im Bild der Hundepfeife bleibend: Die hohen Töne der Hundepfeife sind nur für diese Hunde klar und deutlich hörbar.11

Gedenktafeln vor der Tree of Life Synagoge
© Official White House Photo by Andrea Hanks - President Donald J. Trump and First Lady Melania Trump Travel to Pittsburgh, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74082718

Kaleka nannte im November 2018 neben dem Anschlag auf die Tree-of-Life-Synagoge in Pittsburgh/USA auch die Morde von Gregory Bush an zwei Afroamerikanern als Beispiele für stochastischen Terrorismus.12

Cesar Savoc wiederum bekannte sich im August 2019 schuldig, im Jahr 2018 insgesamt 16 Briefbomben aus extremistischer Motivation an u.a. den früheren US-Präsidenten Barack Obama, die frühere Außenministerin Hilary Clinton sowie den ehemaligen CIA-Direktor James Brennan, an den Milliardär und Spender für die Partei der US-Demokraten, George Soros, und den Schauspieler Robert De Niro geschickt zu haben. Dafür wurde Savoc zu 20 Jahren Haft verurteilt.13 Er hatte sich auf verschiedenen Plattformen radikalisiert, die von Rassisten und Rechtsextremisten frequentiert werden.

Eine Reihe von Internetseiten boten den rechtsextremistischen Einzeltätern von El Paso, Christchurch, Pittsburgh und Halle ein Forum. Anonyme Plattformen wie 8chan, 4chan oder auch Reddit dienten bzw. dienen Rechtsradikalen und Rechtsextremisten zur Verbreitung ihrer Narrative und Thesen, zogen bzw. ziehen aber auch viele neue oder nur sporadisch Interessierte an. Der rechtsterroristische Attentäter von El Paso soll über 8chan ein „Manifest“ verbreitet haben, in dem er die rassistische Propaganda-Fantasie vom „großen Austausch“ der sich als „weiß“ definierenden Bürger eines Landes verbreitete.14 Dass anonyme Plattformen wie 8chan, 4chan und Reddit über Jahre als Orte von extremistischen Narrativen und enthemmter Sprache dienten, stellte die Studie „New Hate and Old: The Changing Face of American White Supremacy“ des Center on Extremism 2018 fest. Die zahlreichen Gruppierungen wie die „Alt Right“, Neonazis, Skinheads und Klu Klux Klan-Mitglieder bildeten und bilden im Internet und auch offline durch Veranstaltungen eine Subkultur, die „offen und niedrigschwellig daherkomme“.15

Eine Reihe von Internetseiten boten den rechtsterroristischen Einzeltätern von El Paso, Christchurch, Pittsburgh und Halle ein Forum. Anonyme Plattformen wie 8chan, 4chan oder auch Reddit dienten bzw. dienen Rechtsradikalen und Rechtsextremisten zur Verbreitung ihrer Thesen vom „großen Austausch“ o.ä., ziehen aber auch zahlreiche neue oder nur sporadisch Interessierte an.

Enthemmte Sprache, potenzielle Ziele von stochastischem Terrorismus in der Pandemie

„Das“ Narrativ, „das“ Anathema der potenziell gewaltorientierten Querdenker ist „die Corona-Diktatur“. Dazu kommt „die Impf-Lobby“ bzw. „die Pharma-Branche“. Daher sind Radikalisierungsprozesse von „Querdenkern“ zu Gewaltanwendung bis hin zu Anschlagsplänen gegen prominente bzw. herausragende Mitglieder dieser als Gegner und „Feinde“ wahrgenommenen Gruppen („die Politiker der Corona-Diktatur“, „die Impf-Lobby“) aktuell und mittelfristig möglich. Aber auch über wahllose Anfeindungen und Gewalt gegen impfende Ärzte und Krankenhausmitarbeiter wurde bereits berichtet.16

In den sozialen Netzwerken werden Politiker und Mitarbeiter von Impfzentren und Krankenhäusern systematisch als Teil der „Impf-Lobby“, als „Gegner“, als „Feind“ konstruiert und dargestellt. Diese antagonistische Freund-Feind-Metaphorik, durch enthemmte Sprache in den sozialen Netzwerken inszeniert, kann nach dem Prinzip von stochastischem Terrorismus Querdenker radikalisieren, bis sie im worst case zu terroristischen Einzeltätern werden.17

Mitte Dezember 2021 führten Ermittler des Landeskriminalamtes Sachsen und ein SEK Razzien bei sechs Verdächtigen, fünf Männern und einer Frau, durch und beschlagnahmten Waffen. In einer Telegram-Chatgruppe sollen diese sechs Verdächtigen Mordpläne gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer und andere Mitglieder der sächsischen Landesregierung besprochen haben. Diese Telegram-Chatgruppe wurde einem heterogenen Milieu von „Impfgegnern“, „Querdenkern“ und „bekannten Neonazis“ zugeordnet.18

Die Drohungen gegen den sächsischen Ministerpräsidenten Kretschmer und weitere Politiker der sächsischen Landesregierung hatten bei zahlreichen Politikern für Empörung gesorgt. Ministerpräsident Kretschmer selbst sagte dazu: „Wir müssen mit allen juristischen Mitteln gegen solch eine Entgrenzung vorgehen. Menschen, die öffentliche Ämter haben, sollen keine Angst haben müssen, ihre Meinung zu sagen und ihre Arbeit zu machen.“19

Die sechs Verdächtigen der Telegram-Chatgruppe „Dresden Offlinevernetzung“ sind zwischen 32 und 64 Jahren alt. In dieser Telegram-Chatgruppe fanden sich radikalisierte Impfgegner zusammen, darunter ein stadtbekannter Dresdner Neonazi. Viele Mitglieder der Chatgruppe agierten unter Klarnamen und mit realen Profilbildern. Dazu gehört auch eine Frau, die für eine Stadtverwaltung arbeitet, sowie eine Frau, die ihre Handynummer veröffentlichte. Diese Frau ist offenbar für die Querdenker-Gruppe „Eltern stehen auf“ aktiv. Bei den Durchsuchungen fand das Landeskriminalamt Sachsen „Waffen und Waffenteile“ sowie Armbrüste.20

Bundesinnenministerin Faeser kündigte Mitte Dezember 2021 an, den Messenger-Dienst Telegram zur Einhaltung der Gesetze zwingen zu wollen. „Dort wird offen Hass und Hetze verbreitet […] Es kann nicht sein, dass ein App-Betreiber unsere Gesetze ignoriert.“21 Ihr Ministerium prüfe derzeit, ob über Plattformen wie Google oder Apple der Druck erhöht werden könne. „Diese Unternehmen haben die Telegram-Anwendung in ihren App-Stores und könnten sie aus dem Angebot nehmen, wenn Telegram permanent gegen Regeln verstößt“, sagte die Ministerin. Zudem könne die Bundesrepublik mit anderen europäischen Staaten auf die Vereinigten Arabischen Emirate zugehen, wo Telegram seinen Sitz hat. Gleichzeitig müsse im Inland der Ermittlungsdruck gegen Onlinehetzer erhöht werden. „Es muss für alle klar sein: Wer im Netz Hass und Hetze verbreitet, bekommt es mit der Polizei zu tun“, sagte Faeser. „Der Fahndungsdruck gegen Extremisten muss in ganz Deutschland gleich hoch sein.“22

Vaccine refusal concept. Crossed hands with text No Vax over vaccination syringe. Person refusing vaccination from measles, Covid-19. Anti-vaccination..
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Radikalisierung und Eskalation der Corona-Proteste?

Bereits Mitte Dezember 2021 hatten verschiedene Politiker vor einer Eskalation der Corona-Proteste gewarnt. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sah eine Ursache wachsender Aggressivität von Teilnehmern an Corona-Protesten in der Unterwanderung der Demonstrationen durch „Reichsbürger“ und rechtsextremistische Gruppen. Teilnehmer von Corona-Protestmärschen rief sie auf, „sich klar von Rechtsextremisten zu distanzieren“.23 „Die fortschreitende Radikalisierung einer kleinen Minderheit gilt es mit absoluter Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden zu begegnen“, sagte der SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese. Es handele sich um den „organisierten Versuch, zu spalten und zu hetzen“. Zwar sei nicht jeder Demo-Teilnehmer gleich ein Rechtsextremist oder ein Reichsbürger. „Aber wer an der Seite von solchen erklärten Anti-Demokraten auftritt, lässt sich von ihnen für ihre Absichten instrumentalisieren und muss mit Konsequenzen rechnen.“24 Auch der stellvertretende FDP-Fraktionsvorsitzende Konstantin Kuhle warnt vor einer gezielten Unterwanderung friedlicher Corona-Proteste: „Jeder Einzelne hat eine Verantwortung, sich von militanten Gruppen fernzuhalten.“25 Der Vize-Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, forderte die konsequente Ahndung von Einschüchterungsversuchen oder Verstößen gegen das Versammlungsgesetz: „Der Staat darf in dieser Situation keinesfalls als schwach erscheinen. […] Im Zusammenhang mit Corona hat sich ein lagerübergreifender Extremismus sui generis entwickelt, der deswegen nicht weniger gefährlich ist.“26 Der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz sagte, zu lange seien Reichsbürger und Querdenker als harmlos abgetan worden. „Wir müssen uns als Demokratie entschlossen aufstellen.“27

Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Thomas Haldenwang, beobachtet seit Wochen eine „Rechtsextremisierung“ der Corona-Proteste: „Wir beobachten, dass rechtsextremistische Gruppen versuchen, das Geschehen zu vereinnahmen. Sehr aktiv sind in letzter Zeit zum Beispiel die Partei ‚Der III. Weg‘, die Partei ‚Freie Sachsen‘ und die Identitäre Bewegung Deutschlands. Diesen Gruppierungen gelingt es, verstärkt auch außerhalb ihrer Szene zu mobilisieren und sich öffentlichkeitswirksam bei den Veranstaltungen in Szene zu setzen. Angehörige des offiziell aufgelösten „Flügels“ wurden wiederholt als Initiatoren und als Teilnehmer wahrgenommen. Lange war es allerdings so, dass diese rechtsextremistischen Einflüsse das Demonstrationsgeschehen nicht prägen konnten. Das verschiebt sich aktuell. […] Früher gab es vor allem Großdemonstrationen, etwa in Stuttgart oder Berlin. Jetzt ist das Geschehen dezentraler und hat quantitativ einen neuen Höchststand erreicht. Wir hatten allein in der ersten Januarwoche an einem Tag mehr als tausend Veranstaltungen mit über 200.000 Teilnehmenden. Sorge bereitet uns neben dem Anstieg der Gesamtzahlen aber auch die Radikalität einiger Teilnehmer. Diese kommt nicht nur durch Gewalt gegen Polizei und Medienvertreter, sondern auch durch Hassparolen zum Ausdruck. Auffällig ist, dass die Polizei zunehmend als Feindbild in den Fokus rückt. Einsatzkräfte werden nicht nur bei den Protesten, sondern auch im virtuellen Raum angefeindet und beispielsweise als ‚Söldner“ und ‚Mörder des Systems‘ diffamiert“.28

Fazit

Zahlreiche Vorfälle von Gewalt, verübt von gewaltbereiten „Querdenkern“ und Rechtsextremisten im Kontext von „Kampf gegen Corona-Maßnahmen“, sowie eklatant zunehmende Fälle von Gewaltandrohungen und enthemmte Sprache in den sozialen Netzwerken zeigen, dass konstruierte Feinbilder und Dichotomien, wie beispielsweise „wir gegen die anderen“, „wir hier unten gegen die Politiker da oben“, „wir gegen die Corona-Diktatur“ die Gewaltanwendung gegen Politiker, Polizisten sowie gegen Journalisten befördern. Derartige Feindbilder werden in Deutschland aktuell von gewaltbereiten „Querdenkern“ und Rechtsextremisten propagiert. Die Entwicklungen der letzten Wochen und Monate zeigen, dass die Zahl der Radikalisierten in den „Querdenker“-Demonstrationen regelmäßig zugenommen hat.

Der Kontext von stochastischem Terrorismus, enthemmter Sprache und extremistischer Narrative ist in zahlreichen aktuellen Fällen evident zu erkennen.

Extremismus (Extremist)
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Nach dem Stufenmodell von Moghadam führen die meisten Radikalisierungsprozesse nicht zu terroristischer Gewalt, die meisten der Radikalisierten bleiben auf Stufen unterhalb von Terrorismus stehen.29 Die Übergänge von enthemmter Sprache und extremistischen Narrativen, verbunden mit Freund-Feind-Bildern, Tötungsaufrufen und „Todeslisten“, zu stochastischem Terrorismus waren und sind fließend und stellen die Sicherheitsbehörden weltweit vor große Herausforderungen. Daher muss zu diesem Phänomen intensiv geforscht werden. Hierbei ist eine intensive Kooperation von Sicherheitsbehörden und Wissenschaft notwendig und diese sollte von der Politik und den Behördenleitungen intensiviert und gefördert werden.

Dieser Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Autors dar.

 

 Quellen:

1  Vgl. https://www.tagesschau.de/investigativ/funk/todesdrohungen-telegram-101.html (18.1.2022).
2  Vgl. ebd.
3  Vgl. ebd.
4  Zitiert nach: ebd.
5  Zitiert nach: Eder, Sebastian/Staib, Julian: Radikalisierung der Querdenker. „Es sind Rufe nach Exekutionen“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.9.2021.
6  Vgl. Goertz, S./Stockhammer, N. (2021): Corona-Maßnahmen-Gegner: Rezente Akteure, Ideologieelemente und ihr stochastisches Gewaltpotenzial. Expert Paper EICTP, S. 22.
7  Vgl. Hamm, M./Spaaij, R. (2017): The age of lone wolf terrorism. New York, S. 84.
8  Vgl. ebd., S. 84, ins Deutsche übersetzt durch Goertz/Stockhammer 2021, S. 22.
9  Vgl. https://www.rollingstone.com/politics/politics-features/trumps-assassination-dog-whistle-was-even-scarier-than-you-think-112138/ (18.1.2022).
10  Vgl. https://www.nzz.ch/international/praesidentschaftswahlen-usa/us-praesidentenwahlen-trumps-spiel-mit-der-hundepfeife-ld.103861 (18.1.2022).
11  Vgl. Goertz, S. (2021): Stochastischer Terrorismus, enthemmte Sprache und extremistische Narrative. In: Kriminalistik 12/2021, S. 658-659.
12  Vgl. http://www.milwaukeeindependent.com/featured/stochastic-terrorism-politics-spreading-fear-can-lead-deadly-violence/ (19.1.202).
13  Vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/usa-briefbomben-attentaeter-zu-20-jahren-haft-verurteilt/24874084.html; https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-03/usa-briefbombe-trump-kritiker-gestaendnis-cesar-sayoc (19.1.2022).
14  Vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/internet-der-rechtsextremen-rassisten-treffen-sich-im-netz-16321835.html?premium=0xb7964a22cd8d45018c306acd1ea77781&printPagedArticle=true#pageIndex_2 (20.1.2022).
15  Vgl. ebd.; Goertz 2021, S. 659.
16  Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/plus235289124/Corona-Bedroht-als-Nazi-beschimpft-Wut-auf-Impf-Personal-eskaliert.html (15.12.2021).
17  Vgl. ebd.; Goertz/Stockhammer 2021, S. 23.
18  Vgl. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-12/kretschmer-michael-mordplaene-telegram-chat-zdf?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F; https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2021-12/michael-kretschmer-mordplaene-dresden-impfgegner-telegram (20.1.2022).
19  Vgl. ebd.
20 Vgl. ebd.
21  Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article235715796/Nancy-Faeser-Viele-bei-Corona-Protesten-verfolgen-eigene-Ziele-die-nichts-mit-der-Pandemie-zu-tun-haben.html (21.1.2022).
22  Vgl. ebd.
23  Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article235616550/Corona-Demonstrationen-Politiker-warnen-vor-Eskalation-der-Proteste.html (21.1.2022).
24  Vgl. ebd.
25  Vgl. ebd.
26  Vgl. ebd.
27  Vgl. ebd.
28  „Corona ist nur der Aufhänger“. Verfassungsschutzchef Thomas Haldenwang über eine neue Szene von Staatsfeinden. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung,. 16.1.2022, S. 2.
29  Vgl. Moghadam, F. (2005): The Staircase to Terrorism: A Psychological Exploration, in: American Psychologist, 60/ 2005, 2, S. 161–169.

 

Über den Autor
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz, Professor für Sicherheitspolitik, Schwerpunkt Extremismus- und Terrorismusforschung, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei
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