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Muslimische Afghanen beim Gebet
© Von Staff Sgt. Teddy Wade (U.S. Armed Forces) - Dieses Bild wurde von der US Army mit der ID 091207-A-6365W-283 herausgegeben.Diese Markierung zeigt nicht den Urheberrechts-Status des anhängenden Werks an. Es ist in jedem Falle zusätzlich eine normale Lizenz-Vorlage erforderlich. Siehe Commons:Lizenzen für weitere Informationen. Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22598610

Afghanistan und die Taliban – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft

Prof. Dr. Stefan Goertz, Hochschule des Bundes, Bundespolizei

Innerhalb von zehn Tagen brauch zusammen, was die westliche Koalition in 20 Jahren aufgebaut hatte, der neue afghanischen Staat nach der Taliban-Herrschaft vor dem 11. September 2001. Die afghanischen Soldaten der Afghan National Army und die afghanischen Polizisten der Afghan National Police waren den Taliban zahlenmäßig und was die Ausrüstung betrifft haushoch überlegen. Trotzdem haben sie sich im August 2021 in zahlreichen Fällen kampflos den Taliban ergeben. Dieser Artikel skizziert zu Beginn die Entstehung der Taliban und ihr erstes „Steinzeit-Kalifat“ in den 1990er Jahren und beleuchtet dann die Niederlage der Regierung Ashraf Ghani und zieht eine erste Bilanz der gescheiterten westliche Nation-building-Mission in Afghanistan.

Afghanistan und die Taliban vor dem 11. September 2001

Die Taliban sind Islamisten, die vor allem unter Paschtunen rekrutieren. Paschtunen machen in Afghanistan ca. 42 % der Bevölkerung aus. Die Taliban – der Name Taliban ist der Plural des arabischen Wortes Talib, das Schüler oder Suchender bedeutet – entwickelten sich 1994 aus den „Mujahedin“ hervor. Diese selbsternannten „Gotteskrieger“ kämpften von 1979 bis 1989 gegen die Besatzung Afghanistans durch die Sowjetarmee. Im Jahr 1989 zogen die sowjetischen Truppen besiegt aus Afghanistan ab und aus dem Machtvakuum entwickelte sich ein Bürgerkrieg, in dem 1996 die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernahmen.1

Innerhalb weniger Wochen konnte Mullah Omar im Jahr 1994 15.000 Kämpfer, ehemalige Mujahedin, um sich sammeln. Die meisten dieser Kämpfer hatten noch die Waffen, die sie von den USA im Stellvertreterkrieg gegen die Sowjettruppen erhalten hatten. Nur zwei Monate nach ihrer Gründung eroberten die Taliban die strategisch wichtige Stadt Kandahar. Die Taliban wurden als Miliz von Pakistan unterstützt, eilten 1994 von Sieg zu Sieg und wurden von vielen Afghanen nach Jahren des Bürgerkrieges als „Befreier“ begrüßt, weil sie die Korruption bekämpften und – streng islamisches – Recht sprachen.2 Im Jahr 1996 eroberten die Taliban Kabul und riefen das „Islamische Emirat Afghanistan“ aus, im September 2021 taten sie dies ein zweites Mal. Obwohl die afghanische Bevölkerung durch die Folgen des Krieges gegen die Sowjettruppen und den jahrelangen Bürgerkrieg nach dem Abzug der Sowjettruppen in der dramatischen humanitären Krise war, verwiesen die Taliban 1996 alle internationalen Hilfsorganisationen (NGO) des Landes. Während der ersten Taliban-Herrschaft bis zum Herbst 2001 – bis die Taliban nach den islamistischen Anschlägen am 11. September 2001 durch eine westliche Koalition gestürzt wurden – waren Musik, Sport, Fotos und Fernseher in Afghanistan verboten, die meisten Schulen und Universitäten geschlossen. Wer sich nicht fünfmal täglich zum Gebet in einer Moschee einfand sah sich Prügelstrafen ausgesetzt.3 Auf der Analyseebene der Menschenrechte wurden die Frauenrechte von den Taliban am stärksten beschränkt. Frauen durften sich nur komplett verschleiert – meistens in einer Burka – und in männlicher Begleitung aus dem Haus bewegen. Vom öffentlichen Leben waren sie nahezu komplett ausgeschlossen. Mädchen durften nur zur Grundschule gehen und keine höhere Bildung anstreben. Immer wieder gab es Berichte über öffentliche Steinigungen angeblicher Ehebrecherinnen.4

Die westliche Intervention in Afghanistan und die Taliban

Diese oben beschriebene – erste – Schreckensherrschaft der Taliban, das „Steinzeit-Kalifat“, fand erst nach dem 11. September 2001 ein Ende, als US-Truppen und andere westliche Truppen in Afghanistan intervenierten. Doch trotz des schnellen Sturzes der Taliban-Regierung wurden die Taliban nie vollständig militärisch besiegt. Sie zogen sich ins unwirtliche Bergland zurück und nutzten – wie bereits gegen die Sowjettruppen – ihren Vorteil der Ortskundigkeit, um die westlichen Streitkräfte in einen Kleinkrieg zu verwickeln (Guerilla Warfare, Insurgency, Small War). Obwohl die Taliban dabei hohe Verluste hinnehmen mussten, hatten sie nie Rekrutierungsprobleme. Die US-Militärhistorikerin Elise Meszaros bezeichnete die Taliban daher als die „womöglich innovativsten und anpassungsfähigsten Aufständischen in der neueren Geschichte“.5

Afghanistan seit dem 11. September 2001 steht für eine Kooperation von Akteuren im Bereich Organisierte Kriminalität, Islamismus und islamistischer Terrorismus, sprich: für eine Verflechtung der Akteure Taliban, Warlords, Stammesälteste und der Al Qaida beim Opiumanbau, Drogenschmuggel und -handel. Nach dem 11. September 2001 entwickelte sich Afghanistan innerhalb weniger Jahre zu einem key player im Bereich des transnationalen Drogenschmuggels. So stieg die vom United Nations Office on Drugs and Crime geschätzte Anbaufläche von Opium in Afghanistan zwischen 2015 und 2017 von 200.000 Hektar auf 328.000.6 Der soeben abgesetzte Präsident und damalige afghanische Finanzminister, Ashraf Ghani, erklärte im Jahr 2008, dass über 60% des jährlichen Wirtschaftsaufkommens Afghanistans auf illegalem Handel basiere, wovon wiederum der Drogenhandel den überwiegenden Anteil ausmache.7 Vor dem Sturz der afghanischen Regierung im August 2021 wurde ca. 90% der weltweit angebauten Menge an Opium in Afghanistan angebaut und seit 2005 – trotz der internationalen Nation-building-Mission – war ein besonderer Anstieg des in Afghanistan angebauten Anteils an Opium festzustellen.8 Durch den Anbau und Verkauf von Opium wurden im Jahr 2019 nach Angaben des United Nations Office of Drugs (UNODC) bis zu 2,1 Milliarden US-Dollar umgesetzt. Im Jahr 2019 waren ca. 119.000 Schlafmohn-Erntehelfer in Afghanistan aktiv, die ca. 4 US-Dollar am Tag für ihre Arbeit erhielten.9 Die staatlich durchgeführte Vernichtung von Schlafmohnfeldern sank nach Angaben des UNODC im Jahr 2019 gegenüber dem Vorjahr um 95% auf 21 Hektar.10Innerhalb kürzester Zeit nach dem Sturz der Taliban durch die westliche Intervention 2001/2002 und dem Beginn der Amtszeit der neuen afghanischen Regierung konnten sich parallele wirtschaftliche Strukturen in den Regionen und Provinzen Afghanistans entwickeln. Zwischen dörflichen Clanchefs, deren Provinzkommandeuren, den Taliban und der Al Qaida entstand ein hybrides transnationales Drogen-Terrorismus-Netzwerk, das trotz regionaler, ethnischer Unterschiede durch die islamistische Ideologie über die Grenzen der regionalen Provinzen und Landesgrenzen hinaus vernetzt war und ist. Dieses Netzwerk ist eine hybride Fusion regionaler und internationaler Akteure und profitiert von gemeinsamen Kapazitäten und Fähigkeiten im Bereich Bewaffnung, Personal, Ausbildung, Transportrouten und Taktiken.11Die Analyse des Anbaus von und Handels mit Drogen in Afghanistan und der Entwicklung der Taliban und der Al Qaida nach 2001 ergibt, dass die Taliban ohne die seit der westlichen Intervention 2001 weiterhin bestehenden Einnahmequellen kaum weiter hätten existieren können. Zusammenfassend: Afghanistan ist nach der westlichen Intervention im Jahr 2001 innerhalb kürzester Zeit zu einem weltweiten key player im Bereich des Anbaus und Verkaufs von Opium geworden, wovon zahlreiche Akteure der Organisierten Kriminalität und des islamistischen Terrorismus profitiert und die Qualität und Quantität zahlreicher terroristischer Anschläge gegen die neue afghanische Staatsform und die westlichen Akteure überhaupt erst ermöglicht haben.

Zerstörung der Buddhas von Bamiyan durch die Taliban, Foto von vor und nach der Zerstörung
© Von Buddha_Bamiyan_1963.jpg: UNESCO/A Lezine; Original uploader was Tsui at de.wikipedia.Later version(s) were uploaded by Liberal Freemason at de.wikipedia.Buddhas_of_Bamiyan4.jpg: Carl Montgomeryderivative work: Zaccarias (talk) - Buddha_Bamiyan_1963.jpg Buddhas_of_Bamiyan4.jpg, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8249891

Die Niederlage der Regierung Ashraf Ghani, Afghan National Army und Afghan National Police – Der Sieg der Taliban

Die USA beendeten zum 11. September 2021 – dem 20. Jahrestag der historischen jihadistischen Anschläge in den USA – den längsten Kriegseinsatz ihrer Geschichte. Der Abzug war an keine weiteren Bedingungen geknüpft. Direkt nach dem Beginn des Abzuges der NATO-Truppen im Mai 2021 starteten die Taliban landesweit zahlreiche Offensiven und eroberten innerhalb von Wochen, bzw. im Fall von Kabul gar innerhalb von Tagen gesamt Afghanistan und errichteten das „Islamische Emirat Afghanistan“.

Dass die Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul im August 2021 innerhalb von Tagen erobern konnten und dabei kaum auf Widerstand der afghanischen Sicherheitskräfte Afghan National Army (ANA) und Afghan National Police (ANP) stießen war von den westlichen Regierungen und Nachrichtendiensten weder erwartet noch in dieser immensen und historischen Geschwindigkeit vorhergesehen worden und stellte die westlichen Nachrichtendienste und Politiker vor ein Rätsel. Die afghanischen Soldaten der ANA und die afghanischen Polizisten der ANP waren den Taliban zahlenmäßig und technologisch haushoch überlegen und trotzdem haben sie sich im Laufe des Sommers 2021 in vielen Fällen kampflos ergeben.12

Mit ihren gepanzerten Fahrzeugen, Hubschraubern und (auf dem Papier) 350.000 Soldaten und Polizeikräften hätte der afghanische Staat den Taliban hoch überlegen sein sollen. Scheinbar setzten die NATO, allen voran die USA, zu sehr auf den Faktor Technologie. Die Desertionen afghanischer Soldaten waren bereits im Jahr 2020 kontinuierlich angestiegen und hätten von den westlichen Analysten und Politikern nach einem realistischen Verständnis von Sicherheitspolitik analysiert werden müssen. Die Rekrutierung neuer Soldaten war seit Jahren immer schwieriger geworden und das Bildungsniveau der ANA massiv gesunken.13

Der deutsche General a.D. Hans-Lothar Domröse, von 2012 bis 2016 Befehlshaber des NATO Allied Joint Force Command, macht sowohl die Moral der ANA als auch Fehler des Westens verantwortlich: „Wir haben offensichtlich die Seele vernachlässigt“ […] „Das wofür.“ Man habe die Armee ausgerüstet, an die Logistik gedacht. Was man nicht gesehen habe, sei die Frage: „Wofür mache ich das alles“, für meinen Staat, für meinen Kommandeur oder für meinen Präsidenten - das hat offenbar gefehlt, und das haben wir unterschätzt. Also ich jedenfalls.“14

Der General a.D. der Bundeswehr, Egon Ramm, früherer Kommandeur des Allied Joint Force
Command der NATO, erklärte am 17.8. in einem Interview, dass es Absprachen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung, respektive dem Verteidigungsministerium und der ANA, gegeben haben könnte.15 Die in der Regel sehr gut informierte Tageszeitung Washington Post schrieb am 15.8., dass die Kapitulation der ANA von den Taliban auch erkauft worden sei: „Der spektakuläre Zusammenbruch des afghanischen Militärs, der es Taliban-Kämpfern ermöglichte, trotz 20-jähriger Ausbildung und amerikanischer Hilfe in Milliardenhöhe am Sonntag bis vor die Tore Kabuls vorzudringen, begann mit einer Reihe von Vereinbarungen, die in ländlichen Dörfern zwischen der militanten Gruppe und einigen der rangniedrigsten afghanischen Regierungsbeamten getroffen wurden”16.

Die gescheiterte westliche Nation-building-Mission in Afghanistan – Eine erste Bilanz

Dieser Absatz kann aus Gründen der Aktualität und des Zugangs zu Quellen nur eine erste, kurze Bilanz der gescheiterten westlichen Nation-building-Mission in Afghanistan bieten. Mit zeitlichem Abstand und dem Zugang zu mehr Quellen muss diese westliche Nation-building-Mission, die 20 Jahre lang gedauert hat – länger als die beiden Weltkriege zusammen, länger als der Vietnamkrieg – gründlich analysiert werden, um etwaige Konsequenzen für die zukünftige Sicherheitspolitik Deutschlands, Europas und der NATO zu ziehen.17

Members of Afghan Uniformed Police receive final orders before departing on patrol to visit Shamair Girls School, Kunar province, Afghanistan, May 29, 2012. U.S. soldiers and AUP deliver school supplies and meet with school key leaders. (Photo ID: 593308)
© Von Sgt. 1st Class Lawree Washingtonn (U.S. Armed Forces) - Dieses Bild wurde von der US Army mit der ID 120529-A-XU607-013 herausgegeben.Diese Markierung zeigt nicht den Urheberrechts-Status des anhängenden Werks an. Es ist in jedem Falle zusätzlich eine normale Lizenz-Vorlage erforderlich. Siehe Commons:Lizenzen für weitere Informationen. Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22605894

„Ihr habt die Uhren - wir haben Zeit“, dieses Motto der Taliban kursierte bereits seit 2006 in Afghanistan, als sich die Sicherheitslage nach der westlichen Intervention im Oktober 2001 dramatisch verschlechterte. Die politisch-militärische Message der Taliban war an die westlichen Staaten und deren Streitkräfte gerichtet: „Wir müssen doch nur abwarten. Ihr seid irgendwann wieder weg und wir dann zurück.“ 20 Jahre nachdem die USA und ihre westlichen Verbündeten die Taliban entmachtet und vertrieben hatten, konnten die Taliban im August 2021 innerhalb von wenigen Tagen die Kontrolle über Kabul und weite Teile Afghanistan übernehmen. Aber nicht nur die Taliban haben die Kontrolle über Afghanistan wiedererlangt, auch die Al Qaida und der von zahlreichen westlichen Medien und Politikwissenschaftlern „tot geglaubte“ „Islamische Staat“ konnten sich in Afghanistan halten und werden zukünftig Einfluss auf die Zukunft des Landes ausüben. Damit ist auch das Minimalziel der westlichen Intervention in Afghanistan gescheitert, die „terroristische Bedrohung“ zu neutralisieren.18

Der Einsatz von US-Truppen und zahlreicher anderer westlicher Truppen in Afghanistan dauerte länger als der Vietnamkrieg. Was Ende 2001 und Anfang 2002 nach einem schnellen kompletten militärischen Sieg aussah, wurde zum längsten militärischen Auslandseinsatz in der Geschichte der USA und der NATO. Angaben über genaue Zahlen getöteter Soldaten der westlichen Koalition sind schwer zu recherchieren, aber eine Auswertung verschiedener Quellen kommt zur Zahl von über 3.750 getöteten westlichen Koalitionssoldaten. Dazu kommen die finanziellen Kosten des Afghanistankrieges, die enorm sind. Allein für die USA hatte das US-Congressional Budget Office die Kosten bis 2017 auf 2,4 Bio. USD geschätzt. Es gibt keine vergleichbaren Schätzungen für die anderen NATO-Verbündeten, aber man kann annehmen, dass sich die Gesamtkosten des Krieges bis zu einem endgültigen Abzug auf über 4 Bio. USD summieren könnten. Das würde dem Doppelten des jährlichen Bruttoinlandsprodukts des gesamten afrikanischen Kontinents entsprechen.19

Trotz enormer militärischer, technischer und finanzieller Überlegenheit und totaler Lufthoheit gelang es der westlichen Koalition zu keinem Zeitpunkt zwischen 2001 und 2021, die Taliban militärisch entscheidend zu besiegen. Auf dem Höhepunkt des Krieges standen ca. 180.000 Koalitions-Soldaten und Tausende private Sicherheitskräfte unter NATO-Kommando, während es wohl nie mehr als 60.000 Taliban-Kämpfer gab. Auch wurden die Taliban im Gegensatz zu den Mudschaheddin in den 1980er-Jahren von keiner Großmacht unterstützt. Die Stärke der afghanischen Armee, Polizei und anderer Sicherheitskräfte wurde – auf dem Papier – mit 350.000 beziffert. Sie wurden von der NATO nicht nur ausgerüstet und trainiert, sondern auch finanziert.

Der Afghanistan-Experte des deutschen Think Tanks Stiftung Wissenschaft und Politik, Markus Kaim, erklärte am 10.8.2021, vor der Einnahme Kabuls durch die Taliban: „Die Erwartung in vielen westlichen Hauptstädten, dass gut ausgebildete und gut ausgerüstete afghanische Sicherheitskräfte ausreichen würden, um der Taliban Herr zu werden, stellt sich als Illusion heraus“ […] „Die NATO hat an den falschen Stellschrauben gedreht. In einem westlichen Glauben an das Machbare hat man auf technische Aspekte wie den Ausbildungs- und den Ausrüstungsstand verwiesen und dabei ausgeblendet, dass eine zentrale Frage die der politischen Loyalität ist. Es gab immer die Annahme, dass man Streitkräfte ausbildet, die loyal zur afghanischen Regierung stünden. Jetzt sehen wir, dass viele Angehörige desertieren, die Waffen von sich werfen, Stellungen kampflos an die Taliban übergeben, nicht die Kampfkraft entwickeln, die man ihnen zugeschrieben hat. Nun stellt sich heraus, dass die politische Loyalität offensichtlich nicht der Zentralregierung, sondern lokalen Machthabern, Warlords und anderen Akteuren gilt.“20 Kaim hält für fatal, dass die politisch Verantwortlichen die Anzeichen der letzten 15 Jahre in Afghanistan nicht erkannt haben. „Es sind in Rekordzeit die Potemkinschen Dörfer deutscher Afghanistanpolitik zusammengebrochen.“21

Der Bundesnachrichtendienst (BND) räumte bei einer Befragung durch den Bundestag Mitte August 2021 eine Fehleinschätzung der Lage in Kabul ein. Der BND als deutscher Auslandsnachrichtendienst hatte die Entwicklung in Afghanistan, die in die chaotische Evakuierung des internationalen Flughafens mündete, entscheidend falsch eingeschätzt. Der BND war noch weniger als 48 Stunden vor der Einnahme Kabuls durch die Taliban davon ausgegangen, „dass es wohl Wochen dauern werde, bis die Taliban in die Hauptstadt Kabul einrücken werden“. „An einem Vormarsch haben die Islamisten derzeit kein Interesse“, hieß es in einem Lagebericht – „zudem würden ihnen die militärischen Mittel dafür fehlen“. „Eine Übernahme Kabuls in nächster Zeit sei ‚eher unwahrscheinlich‘“.22 Nach dem Verlauf einer Befragung des BND durch Mitglieder des Parlamentarischen Kontrollgremiums im Bundestag Mitte August gab es nicht nur ein Versagen des BND. Gravierende Fehler wurden ganz offensichtlich auch bei der Bewertung der gesammelten Informationen und der Wahl der folgenden Maßnahmen durch die Politik und die zuständigen Ministerien Auswärtiges Amt und BMVg gemacht. Mitarbeiter des BND räumten nach Angaben medialer Berichterstattung ihren Anteil an der Fehleinschätzung der Lage in verschiedenen Sitzungen mit Bundestagsabgeordneten ein: „Wir haben es nicht gesehen“.23

Das „Islamische Emirat Afghanistan“ – Die Zukunft

Das Regierungskabinett des „Islamischen Emirats Afghanistan“, der Taliban, von Anfang September 2021, wird medial als „Talibanriege der Hardliner“ bezeichnet. Verschiedene Minister dieser Taliban-Regierung stehen auf internationalen Terrorlisten, der Verteidigungsminister beispielsweise ist der Sohn von Taliban-Gründer Mullah Omar. Die Taliban signalisieren mit dieser aktuellen Regierung, dass sie sich im Augenblick als autark von Wohlwollen der internationalen westlichen Staatengemeinschaft sehen. Kurz vor der Verkündigung dieser neuen Regierung, einer Taliban-Regierung für Afghanistan, hatten verschiedene Politiker und Medien von Verhandlungen mit „moderaten Taliban“ gesprochen. Dieses neue Kabinett allerdings ist sicherlich alles andere als eine Regierung von „moderaten Taliban“. Aber die westliche Staatenwelt weiß, dass noch immer Zehntausende ehemalige Mitarbeiter in Afghanistan festsitzen und ausgeflogen werden sollen, wofür die Kooperation dieser Taliban-Regierung Voraussetzung ist.24

Das Ministerium für Frauenangelegenheiten wurde von der neuen Taliban sofort abgeschafft. Dafür haben die Taliban in ihrem zweiten „Islamischen Emirat“ wieder ein „Ministerium für die Förderung der Tugend und die Bekämpfung des Lasters“ eingeführt. Die alte Taliban-Elite, die schon in den 1990er Jahren zentrale Regierungsposten besetzte, wurde ergänzt mit jungen Taliban-Führern, die im ersten Emirat noch zu jung waren, um zu regieren. Der UN-Sicherheitsrat forderte wenige Tage nach der Vorstellung der neuen afghanischen Regierung in einer einstimmig verabschiedeten Resolution von den Taliban die Bildung einer inklusiven Regierung mit der Beteiligung von Frauen.

Afghanistan steht kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps und einer humanitären Krise. Die Lebensmittelpreise sind schnell und rapide angestiegen, das Finanzsystem befindet sich im freien Fall. Nach Angaben der UN hatten bereits im Sommer 2021 93 % der Haushalte in Afghanistan nicht genug zu essen, die Grundversorgung stehe demnach vor dem Zusammenbruch. Verschiedene Experten raten, Deutschland und die westliche Staatenwelt solle mit den Taliban verhandeln, finanzielle Hilfe aber an Bedingungen knüpfen, um ein Mindestmaß an Menschenrechten für die afghanische Bevölkerung zu gewährleisten. In Bezug auf die aktuellen Berichte und Spekulationen über einen tödlichen Machtkampf in dieser neuen Taliban-Regierung ist festzustellen: Die Taliban sind kein monolithischer Block, verschiedene Strömungen ringen miteinander. Der Ausgang dieses Konflikts wird massive Konsequenzen für Afghanistan haben, für die afghanische Bevölkerung sowie die afghanische Innen- und Außenpolitik. Afghanistan droht von einem failing state zu einem failed state zu werden.25

Dieser Beitrag stellt die persönliche Auffassung des Autors dar.

 

Quellen:

1  Vgl. https://www.waz.de/politik/afghanistan-taliban-kabul-ziele-amnestie-id233070625.html (20.9.2021).
2  Vgl. https://www.nzz.ch/international/afghanistan-die-rueckkehr-der-taliban-ld.1545817 (20.9.2021).
3  Vgl. ebd.
4  https://www.waz.de/politik/afghanistan-taliban-kabul-ziele-amnestie-id233070625.html (21.9.2021).
5  Vgl. https://www.nzz.ch/international/afghanistan-die-rueckkehr-der-taliban-ld.1545817 (21.9.2021); Goertz, S. (2021): Afghanistan Eine aktuelle sicherheitspolitische Analyse - erste Bilanz und Ausblick. In: Österreichische Militärische Zeitschrift 6/2021, S. 740.
6  Vgl. United Nations Office on Drugs and Crime (2019): Afghanistan Opium Survey, S. 10.
7  Vgl. Shelley, L. (2014): Dirty Entanglements: Corruption, Crime, and Terrorism. Cambridge, S. 238.
8  Vgl. United Nations Office of Drugs and Crime (2008): Afghanistan Opium Survey 2007.
9  Vgl. United Nations Office on Drugs and Crime (2019): Afghanistan Opium Survey, S. 5-6.
10  Vgl. ebd., S. 10.
11  Vgl. Goertz, S. (2021): Der neue Terrorismus. Neue Akteure, Strategien, Taktiken und Mittel. Wiesbaden, 2. Auflage, Kapitel 3.3.3.
12  Vgl. Goertz, S. (2021): Das gescheiterte Nation-building in Afghanistan durch die westliche Staatengemeinschaft. In: Kriminalistik 10/2021, S. 543.
13  Vgl. Goertz 2021, Das gescheiterte Nation-building in Afghanistan durch die westliche Staatengemeinschaft, S. 545.
14  https://www.welt.de/politik/deutschland/plus233172637/Afghanistan-Wir-haben-die-Dimension-der-Korruption-unterschaetzt.html (24.9.2021); Goertz 2021, Das gescheiterte Nation-building in Afghanistan durch die westliche Staatengemeinschaft, S. 545.
15  Vgl. https://www.n-tv.de/politik/Es-koennte-Absprachen-gegeben-haben-article22748551.html (21.9.2021).
16  Vgl. https://www.behoerden-spiegel.de/2021/08/16/wurde-afghanistan-erobert-oder-abgekauft/ (22.9.2021).
17  Vgl. ebd.
18  Vgl. Goertz 2021, Afghanistan Eine aktuelle sicherheitspolitische Analyse – erste Bilanz und Ausblick, S. 742.
19  Vgl. ebd.
20  https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-vormarsch-taliban-101.html (24.9.2021); Goertz 2021, Das gescheiterte Nation-building in Afghanistan durch die westliche Staatengemeinschaft, S. 545.
21  https://www.nzz.ch/international/wer-das-land-kennt-ist-vom-rasanten-fall-afghanistans-nicht-ueberrascht-ld.1640894 (24.9.2021); Goertz 2021, Das gescheiterte Nation-building in Afghanistan durch die westliche Staatengemeinschaft, S. 545.
22  Vgl. https://www.welt.de/politik/deutschland/article233245699/Bundesnachrichtendienst-Fehleinschaetzungen-zu-Afghanistan.html (25.9.2021).
23  Vgl. ebd.
24  Vgl. https://www.sueddeutsche.de/meinung/afghanistan-taliban-regierung-kabul-1.5404465 (26.9.2021)
25  Vgl. https://www.reservistenverband.de/magazin-loyal/ministerium-zur-bekaempfung-des-lasters/ (30.9.2021).

 

Über den Autor
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz, Professor für Sicherheitspolitik, Schwerpunkt Extremismus- und Terrorismusforschung, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei
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