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 Europas wahrscheinlich größter Karnevalsumzug in Köln stellt neben den Organisatoren auch die Polizei vor Sicherheitsprobleme.

Was hat die Wissenschaft des Verkehrsflusses mit einem Karnevalszug zu tun?

Von Prof. Dr. Michael Schreckenberg

Noch in der Winterzeit werden in einigen Regionen ganze Bevölkerungsgruppen von einer gewissen Unruhe befallen, ja legen sogar Hyperaktivität an den Tag. Bei einigen Ausformungen ist man unwillkürlich an die leidenschaftliche Diskussion um ADHS („Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) erinnert, allerdings überwiegen eindeutig Hinweise auf die Auswirkungen einer sogenannten „Fünften Jahreszeit“. Deren Auftreten scheint demzufolge nur von einigen Auserwählten wahrgenommen werden zu können.

Man spricht dann häufig auch nur schlicht von „Karneval“, wobei hier allein schon
die Begrifflichkeit zu Diskussionen führt. In den Parallelwelten unterschiedlicher Regionen haben sich selbständige Ausdrücke wie „Fastnacht“, „Fasching“, „Fastelovend“ oder „Fasteleer“ eingebürgert. Selbst bei der Bezeichnung der Betroffenen gibt es keine Einigkeit: mal ist von „Jecken“ die Rede, mal von „Narren“. Bei dem, was diese nun in den verschiedenen Örtlichkeiten als Schlachtruf von sich geben, herrscht nun absolute Verwirrung. Gemeinhin bekannt sind wohl auptsächlich „Alaaf“ und „Helau“ (wer kennt schon so bedrohliche Ankündigungen wie „Schnüdel Klar“, „Hall die Gail“ oder „Quiekpiep“). Ein Besuch auf der Wikipedia-Seite Narrenruf“ lässt einen geradezu erschaudern.

Bei der Herkunft vieler Ausrufe ist die Historienforschung wie so häufig auf wilde Vermutungen angewiesen. Bei Helau reicht das dann von „Halleluja“ bis zu „Hölle auf“, böse Zungen bringen auch „Hellblau/Halbblau“ als Vorstufe zu Ganzblau im Sinne von volltrunken ins Spiel. Bei Alaaf scheint es einfacher zu sein, denn man kommt schnell auf „Alles ab/weg“. Eines haben die Worte aber gemeinsam: Auf dem Verbreitungsgebiet des jeweils anderen haben sie nichts zu suchen, ja ihr fälschlicher Gebrauch kommt einer der schwersten Sünden gleich …

Aber selbst das Wort Karneval lässt sich nicht ganz eindeutig entschlüsseln. Naheliegend ist für den vorderen Wortteil das lateinische „carne“, Fleisch heranzuziehen, der hintere Teil hat dann eher etwas mit „Wegnehmen“ (levare) oder „lebe wohl“ (vale) zu tun. Sei’s drum, alles deutet irgendwie auf die bevorstehende über sechswöchige Fastenzeit ab Aschermittwoch hin (genau genommen 46 Kalendertage minus die fastenfreien Sonntage), die ja bekanntermaßen mit schlimmsten Entbehrungen verbunden ist. Vor ihrem Beginn wird also noch einmal kräftig „die Sau raus gelassen“.

Dies kumuliert dann üblicherweise in der Zusammenrottung unterschiedlichster Karnevalsgruppen, um gemeinsam „Prozessionen“ auf der Straße abzuhalten, deren größte Vertreter die Rosenmontagszüge darstellen. Während der Karneval als lustiges Treiben in vornehmlich städtischer Umgebung auf eine Jahrtausende alte Tradition zurückblickt, sind die Umzüge eher jüngerer Natur und von ganz wechselvoller Geschichte. Der erste Fastnachtszug wurde übrigens 1397 aus Nürnberg vermeldet. Die karnevalistischen Auswüchse nahmen jedoch (wohl auch alkoholbedingt!) solcherlei Maße an, dass man mit Verboten mehrmals dagegen vorging. So wollte man in Köln den „Mummenschanz“, also das „Vermomben, Verstuppen und Vermachen“ hauptsächlich als Ausdruck heidnischen Herumtobens untersagen. Irgendwie wurde aber trotzdem weiter gefeiert.

Die Adeligen hatten eigentlich immerfort Karneval gefeiert, aber eher hinter schlössernen Mauern und für sich. Nach einigem Hin und Her mit Verbieten und Erlauben wurde der Karneval auf der Straße schließlich von den Bürgern selbst, nunmehr etwas geordneter, organisiert. Hier wurde Köln zum Vorreiter mit der Gründung des Festkomitees Kölner Karneval von 1823. Von da an ging es nicht nur bergauf, sondern auch in besonderer, humoristischer Weise gegen die Obrigkeiten. Dies hat speziell den Reiz der Umzüge bis heute ausgemacht, mit teilweise deftigen und bissigen Anspielungen auf politische wie kulturelle Vorgänge und konkret betroffene Personen, um Missstände und Lächerlichkeiten aufs Korn zu nehmen.

Die Historie der Umzüge hat auch noch einen anderen Aspekt, der bis heute sichtbar ist. Aus der Geschichte der Wettrennen reiterloser Pferde in Italien („Palio“) entstanden festliche Umzüge mit Pferdewagen, Korso genannte, meist mit Adeligen besetzt. Später wurde im „Blumenkorso“ dem Frühjahr und der sprießenden Natur gedacht. Heute kennen wir eher den „Autokorso“, vornehmlich nach Fußballspielen. An sich sind diese Korsos verboten, da man sich im Straßenverkehr nicht absichtlich „zu langsam“ bewegen darf und andere dadurch grundlos behindert. Zudem sind in vielen Fällen die Fahrzeuge komplett „überbesetzt“ oder besser gesagt überladen und damit für die Straße gar nicht zugelassen. Hier drückt die Polizei allerdings das eine oder andere Auge zu.

Doch was hat eine Wissenschaft des Verkehrsflusses mit einem Karnevalszug zu tun? Diese Frage trieb mich während meiner bisherigen Tätigkeit eigentlich nicht im Entferntesten um. Dies sollte sich allerdings schnell ändern, als mich im Mai vergangenen Jahres der stellvertretende Zugleiter des Kölner Karnevalszuges kontaktierte und um Hilfe im Sinne der Karnevalsgesellschaften bat. Ohne die Nachricht genau gelesen zu haben, war mir auf der Stelle klar: Die halten im Zug ständig an und stehen häufig im Stau. Dies sollte nun analysiert und wenn möglich beseitigt oder zumindest verbessert werden.

Motivwagen im Kölner Rosenmontagszug. Als umzugserfahrenes Mitglied einer Gruppe („Wallensteiner“) des Düsseldorfer Schützenvereins St. Sebastianus Bruderschaft Angermund 1511 e.V. kenne ich diese Stauwellen nur zu gut. Es sah also ganz nach dem üblichen Treiben auf unseren Straßen im normalen Verkehr aus, wo durch den menschlichen Faktor Fluktuationen entstehen, die schließlich in Staus enden. Übrigens hat sich in der Verkehrstheorie eine neue Sichtweise auf die Stauentstehung entwickelt: nicht die Überreaktion beim Bremsen ist schuld am Stillstand, sondern beim Beschleunigen! Dadurch nämlich entstehen Bereiche größerer Dichte, die wiederum die Fahrer zu niedrigen Geschwindigkeiten und schließlich zum Anhalten zwingen.

Meine Verblüffung war also nicht schlecht, als man mir bei einem Termin im Kölner  Karnevalsmuseum (sehenswert!) von genau dem gegenteiligen Effekt berichtete (was ich in der E-Mail seinerzeit überlesen hatte): die vorderen Gruppen sind nach dreieinhalb Stunden im Ziel, der letzte Wagen mit dem Prinzen („Seine Tollität“) schon nach zweieinhalb Stunden! Dies war natürlich ein unhaltbarer Zustand, dass der höchste Repräsentant des Kölner Karnevals eine Stunde weniger Spaß beim Umzug hat als die vordersten Gruppen! Und das nicht einmal, sondern konstant während der letzten fünf Jahre. Also ein ernstzunehmendes Problem.

Nun muss man sich erst einmal klar machen, dass es sich bei dem Kölner Umzug um die größte Prozession Deutschlands, ja wahrscheinlich Europas oder sogar der ganzen Welt handelt. Über eine Strecke von sieben Kilometern bewegen sich über 12.000 Jecken. Der aufgestellte Zug ist länger als die zurückzulegende Strecke, d.h wenn die vordersten im Ziel sind, ist der Prinz noch beim Frühstück. Es handelt sich also um ein echtes Massenphänomen. Kurioses am Rande: der kleinste Umzug war von 1956 bis 2011 in Unna zu bestaunen, er bestand aus nur einem einzigen handgezogenen Leiterwagen!

Wie es sich für einen Theoretiker gehört, schossen mir natürlich diverse Erklärungsversuche, vor allem aber Fragen durch den Kopf. War dies ein rein Kölner Phänomen oder trat das auch in Düsseldorf, Mainz, ja vielleicht sogar beim Karneval in Rio oder bei der Steuben-Parade in New York auf? Doch zumindest in Rio läuft das alles ganz anders ab, da der Zug lediglich in einer 700 Meter langen Arena („Sambódromo“) vor Tribünen läuft und nur handgezogene Wagen erlaubt sind.

Vielleicht aber tritt der Effekt in noch ganz anderem Zusammenhang auf. Nachdem in der Presse in Zusammenhang mit meinem Namen über das schnelle Zugende berichtet wurde, bekam ich dazu etliche Hinweise aus der Bevölkerung. Eine Grundschullehrerin schrieb über die ständig hinterher laufenden hinteren Schüler bei Klassenausflügen, ein Motorradfahrer sagte, dass bei Ausfahrten in größeren Gruppen die hintersten immer „das Letzte aus ihrer Maschine herausholen“ müssten und mir wurde sogar mitgeteilt, dass in Panzerbataillonen (!) die hintersten „trotz Höchsttempo Mühe hätten, Anschluss zu halten“.

Es schien fast wie bei Uri Gellers legendärem Auftritt im Fernsehen seinerzeit, als die Menschen zum ersten Male bewusst in ihre Besteckschubladen schauten und all die (schon länger) verbogenen Esswerkzeuge erschreckt wahrnahmen. Ein fast überall bei Kolonnen auftretendes Phänomen wurde also endlich bewusst gemacht und als wissenschaftlich seriös eingestuft.

Bei den Erklärungsversuchen stieß sich dann auf das von der Zugleitung ausgegebene Motto: Lücken schließen. Am Anfang wird getrödelt (dort filmt der WDR) und dann heißt es nur noch rennen, um Anschluss zu halten. Wie bei einer Ziehharmonika schrumpft dadurch der Zug und das Ende kommt dem Anfang immer näher.

Für den Karnevalszug 2013 bekam ich dann die Einladung, vorneweg auf dem Zugleiterwagen mitzufahren und das jecke Treiben hautnah mitzuerleben. Dieser Wagen befördert hauptsächlich Prominente, so dieses Jahr u.a. Alice Schwarzer, Jonas Reckermann und Hans Süper, das Kölner Karnevalsurgestein. Diesmal wurde den Gruppen mit auf den Weg gegeben, die Lücken nicht notwendig zu schließen. Zur letztendlichen Auswertung wurden im Zug zwanzig GPS-fähige Funkgeräte verteilt.

Der Zugweg 2013 war gegenüber den Vorjahren mit 7,5 Kilometer nochmals um 500 Meter Länger als zuvor (aufgrund einer Baustelle). Mit fast 13.000 Teilnehmern stellte sich auch dort ein Rekord ein. Wir brauchten vorne schließlich drei Stunden und 50 Minuten und ließen dann den gesamten Zug an uns vorbeifahren. In der Tat traten größere Lücken auf, doch der Prinz war nach nur drei Stunden schon im Ziel. Also nicht wirklich ein sichtbarer Erfolg der neuen Strategie.

Problematisch ist auch, dass der hintere Teil des Zuges bei völliger Dunkel einläuft, was sich bei längerer Laufzeit noch verschärfen würde. Ob man das will, ist eine gute Frage. Während des Zuges kommen einem noch ganz andere schwierige Fragen in den Kopf: Stehen mehr Zuschauer links oder rechts vom Zug? Wie viel Prozent des Wurfmaterials erreicht wirklich sein Ziel? Wie wirkt sich darauf das „unkooperative“ Verhalten einzelner Jecken aus?
Am Ende aber bleibt das Problem des „rasenden Prinzen“. Vielleicht aber ist das ja inhärent ein Rosenmontags-Phänomen. Denn obwohl „Veilchendienstag“ darauf schließen ließe, dass mit „Rosen“ die dornigen Gewächse gemeint sind, so ist dies weit gefehlt. Denn kölsch „rose“  heißt einfach rasen, und damit ist das rasante Karnevalsfest gemeint.

Über die Ergebnisse der Zugmessungen werde ich in einer der nächsten Ausgaben berichten. Jedenfalls kann ich mich nun in Zukunft in aller Ruhe in den Karneval stürzen und sagen, ich ginge arbeiten.

 

 

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