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Vom Niedergang grundrechtlicher Denkkategorien in der Corona-Pandemie

Von Oliver Lepsius

Wir beklagen zurzeit Grundrechtseingriffe ungeahnten Ausmaßes. Wir müssen aber noch etwas beklagen, nämlich einen ziemlich flächendeckenden Ausfall rechtsstaatlicher Argumentationsstandards. Zwar betonen die Entscheider, die momentan mit Rechtsverordnungen Grundrechte suspendieren, immer wieder, wie schwer ihnen dies falle. Dem rechtlich wie ethisch gebotenen Umgang mit den Grundrechten wird die momentane Rechtfertigungsrhetorik jedoch nicht gerecht.
Oliver Lepsius
© Max Steinbeis Verfassungsblog GmbH
Grundrechte können nur unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit eingeschränkt werden. Der Eingriff unterliegt einem Rationalitätstest anhand von faktenorientierten Maßstäben und einer Verantwortbarkeitskontrolle orientiert an normativen Maßstäben. 

Zunächst geht es um Faktenfragen: Es darf vor allem kein milderes Mittel geben. Können die gewählten Mittel das Ziel, dem der Eingriff dient, überhaupt fördern? Sind weniger invasive Mittel denkbar? Um diese Fragen zu beurteilen, muss man wissen, auf welche Bedrohung reagiert wird. Sodann dürfen die für dieses Ziel eingesetzten Mittel andere Rechtsgüter nicht unangemessen verkürzen. Jetzt geht es um eine normative Frage. Das rechtsstaatliche Rechtfertigungsprogramm von Grundrechtseingriffen operiert mit einigen Grundkategorien: Schutzgüter, Eingriffsintensität, mildere Mittel, Kausalität und Zurechnung. Die mit diesen Kategorien verbundenen Denkvorgänge finden momentan ganz weitgehend nicht statt. Wenn wir momentan einen „Ausnahmezustand“ erleben, dann ist es ein Ausnahmezustand im juristischen Denken.

Lebensschutz ist mittelbarer Effekt, aber nicht Ziel der Eingriffe

Zunächst besteht ein Problem, das grundrechtliche Schutzgut zu bestimmen, dem die Grundrechtseingriffe dienen. Es gehe um Leben oder Tod, liest und hört man immer wieder. Mich erinnert dieses Argumentationsniveau an die Zeiten von „lieber rot als tot“. Ginge es um Leben oder Tod, müssten zunächst alle Kraftfahrzeuge verboten werden. Nein, es geht um Gesundheit. Diese ist freilich grundsätzlich von vielen Parametern abhängig. Einige kann der Einzelne beeinflussen (Ernährung), die meisten jedoch kaum (Umweltbelastung, gefährdendes Verhalten Dritter, Chancengleichheit bei der Infrastruktur, allgemeines Lebensrisiko von Krankheit und Alter). Zweck der Grundrechtseingriffe kann daher nicht pauschal „Gesundheit“ sein, sondern nur ein gesundheitsrelevanter Aspekt, nämlich die Vermeidung der Überforderung des Gesundheitssystems.

Dafür ist die Prognose ausschlaggebend, wie viele Intensivpatienten wir wie lange versorgen können. Es geht also um die optimale Steuerung des Pandemieverlaufs am Maßstab der medizinischen Kapazität. Das Vermeiden von Ansteckungen ist nicht das Ziel der Eingriffe, sondern Mittel zur Steuerung. Lebensschutz ist der mittelbare Effekt des Steuerungszwecks, nicht aber das Ziel selbst – weil sonst jedwedes staatliches Handeln immer auch dem Lebensschutz diente, dann aber kein grundrechtlich (und auch kein politisch) handhabbares Ziel mehr wäre. Die momentane Diskussion hält aber politisch wie publizistisch immer noch in erster Linie am Schutzgut Leben fest, statt das Ziel konkret zu benennen: kapazitätsgerechte Steuerung des Pandemieverlaufs. Es ist klar, dass sich mit einem solchen Ziel die Rechtfertigungslasten signifikant verschieben würden – sowohl im Hinblick auf die beizubringenden Tatsachen, die Grundrechtseingriffen zugrunde gelegt werden, als auch im Hinblick auf die normative Bewertung anderer grundrechtlicher Belange.

Der mit dem Grundrechtseingriff verfolgte Zweck ist also ein dynamischer Zweck, die dauerhafte, langfristige Kapazitätssicherung. Über sie können wir aber nur Hypothesen anstellen. Die getroffenen Maßnahmen müssen folglich geeignet und erforderlich sein zur kapazitätsadäquaten Verlangsamung der Infektionsrate der Bevölkerung, nicht zur Verhinderung der Infektion von Einzelnen. Der beunruhigende Effekt, der sich für die Verhältnismäßigkeitskontrolle hier abzeichnet, lautet: Was traditionell eine tatsachenbasierte Prüfung war (Geeignetheit, Erforderlichkeit), entwickelt sich bei einem Regelungsziel, dessen Erreichung nicht hinreichend tatsachengestützt prognostizierbar ist (denn wer kennt in den nächsten Monaten an jedem Tag sowohl die verfügbare Kapazität als auch die Zahl der Intensivpatienten?), zu einer Wette. Momentan verwetten wir unsere Grundrechte für einen Erfolg, den wir erhoffen, der aber nicht prognostizierbar ist. Unter diesen Bedingungen ist es zentral wichtig, Grundrechtseingriffe strikt zu begrenzen in der Hoffnung, dass wir mit der Zeit über Erfahrung und Tatsachen verfügen, die dann halbwegs überprüfbare Prognosen ermöglichen. 

Das allgemeine Polizeirecht erlaubt bei prognostischer Unsicherheit typischerweise nur den Gefahrerforschungseingriff. Prognosen sind für Grundrechtseingriffe immer bedenklich, weil sie die Tatsachenkontrolle erschweren. Dem Problem kann durch eine (1) strenge Limitierung der Mittel mit (2) einer Pflicht zu ihrer Überprüfung anhand der sich durch Zeitablauf verbessernden Tatsachenkenntnis und (3) der ständigen Suche nach milderen Mitteln begegnet werden. 

Für die Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen heißt dies im Augenblick: Weil eine Tatsachenkontrolle des Zweck-Mittel-Verhältnisses noch nicht möglich ist, sollte die Wette, die dem Grundrechtseingriff zugrunde liegt, verschiedene Strategien verfolgen. Wer setzt nur auf eine Karte? Es ist wichtig, Erfahrungswissen im Umgang mit der Zeitdimension zu gewinnen. Dazu sind unterschiedliche Mittel auch in ihrer Alternativität zu erproben. Das aber heißt: Eine Strategie maximaler Invasivität ist ungeeignet, das zeitlich nicht konkretisierbare Regelungsziel zu erreichen. Im Hinblick auf das Regelungsziel muss der Ausbau und die Aufrechterhaltung der Kapazität (Personal, Intensivbetten) berücksichtigt werden wie breite Tests, die es ermöglichen, Infektionsverläufe vorherzusehen. Im Hinblick auf die Regelungsmittel ist zu differenzieren, sei es zwischen Personengruppen, sei es zwischen Verhaltensformen, sei es zwischen gefährlichen Orten oder besonders betroffenen Regionen. 

Das heißt aber auch, dass Maßnahmen, die alle betreffen, selbst wenn es keinen Anhaltspunkt gibt, dass gerade sie das Gesundheitssystem entlasten könnten, unzulässig sind. Sonst werden wir alle wie Nichtstörer behandelt und das ist grundrechtlich unzulässig, weil es die Freiheit dementiert. Aus grundrechtlicher Perspektive ist es unverzichtbar, zielgenauere Adressatengruppen auszudifferenzieren (wer?, wie?, wo?). Das wird den Entscheidenden schwer fallen, weil sie sich dem Vorwurf ausgesetzt sehen werden, ungleich zu handeln, weil sie Prioritäten begründen müssen und in der ex-post Perspektive entweder für zu weitgehende oder zu geringe Eingriffe Kritik erfahren werden. Und leider ergibt sich daraus eine schädliche Logik, denn es ist politisch vermeintlich rational, mehr anzuordnen als nötig. Wir kennen diesen Gang der Dinge von den Anti-Terrorgesetzen, bei denen sich die Politik stets am Machbaren orientierte und im Drang, zum Schutz aller auch die Rechte aller einzuschränken, erst vom Bundesverfassungsgericht, weniger von der Öffentlichkeit, gebremst wurde. An die Öffentlichkeit kann daher nur appelliert werden, nicht ein Ziel über alle anderen Rechtsgüter stellen und Entscheidungen nur daran messen zu wollen. Insofern wäre es für eine grundrechtliche Debatte schon sehr hilfreich, wenn das Ziel genauer genannt würde, nicht diffus „Kampf gegen das Virus“, sondern „kapazitätsgerechte Steuerung des Pandemieverlaufs“. Schon diese terminologische Konkretisierung eröffnet nämlich politische Entscheidungs- und Differenzierungsspielräume.

Nach milderen Mitteln Suchen verboten?

Unverständlich ist des Weiteren, warum die Suche nach milderen Mitteln von den Exekutiven momentan sträflich vernachlässigt wird. Die Kanzlerin hat die Suche explizit verboten, wenn sie erklärt, bis zum 19. April bleibe erst einmal alles wie es ist. Im Sinne des institutionalisierten milderen Mittels ist es jedoch wichtig, differenzierte Lösungen zu fördern, also nicht rigide und einheitlich zu handeln, sondern flexibel und alternativ. Das wird schon erleichtert, wenn unterschiedliche Instanzen entscheiden, wie es im deutschen Föderalismus der Fall ist. Insofern kann die föderative Zuständigkeitsverteilung den organisatorischen Nebeneffekt haben, die Suche nach milderen Mitteln zu begünstigen – wenn man das will. Denn der Föderalismus sorgt durch die Vervielfachung der Zuständigkeit schon allein dadurch für Grundrechtsschutz, dass er Alternativen nahelegt und auf diese Weise Erfahrungswissen mit milderen Mitteln ermöglicht. Momentan ist die Öffentlichkeitswahrnehmung für den Grundrechtsschutz aber kontraproduktiv, wenn gebetsmühlenhaft ein föderaler „Flickenteppich“ beanstandet wird, so auch von der Bundeskanzlerin. Wer bundeseinheitliche Lösungen fordert, dementiert das grundrechtlich gebotene mildere Mittel. 

Die Perspektive ist umso relevanter in der Prognosedimension: Die Geeignetheit von Grundrechtseingriffen lässt sich in dynamischen Verlaufsszenarien gerade nicht einheitlich wissenschaftlich oder statistisch berechnen. Das zeigen auch die täglichen Statements der Virologen. Sie ist jetzt nämlich eine Bewertungsfrage und keine reine Tatsachenfrage wie bei einer ex-post Kontrolle. Als Wertungsfrage ist sie dann aber von Institutionen zu beantworten, die für Wertungen zuständig sind: Institutionen, die politisch verantwortlich sind und werten können, weil sie pluralistisch organisiert sind. Nicht jedoch Wissenschaftler, deren Terrain Fakten sind. Das hat nichts mit Ausnahmezustand zu tun, sondern ist die erkenntnis- und organisationstheoretische Folge einer zeitlich relativen Ungewissheit.

Es geht also um die Rechtfertigung von lediglich vorläufigen Maßnahmen, die überdies differenziert verhängt werden können. Dies zu betonen aktuell besonders wichtig: Der Grundrechtseingriff bleibt beweispflichtig. Die Maßnahmen sind immer von ihrer Beendigung aus zu betrachten und sie lassen sich für das momentane dynamische Ziel (kapazitätsgerechte Steuerung des Pandemieverlaufs) verfassungsrechtlich nur rechtfertigen, wenn sie auf das Vorläufige und Vorübergehende abstellen. Das zwingt zugleich zu einem ritualisierten Einfordern des milderen Mittels. Alles andere würde schon kategorial zu unverhältnismäßigen und folglich verfassungswidrigen Grundrechtseingriffen führen. Dies wiederum setzt eine politische Kultur voraus, in der über die sinnvolle Differenzierung diskutiert wird und nicht ein Überbietungswettbewerb mit flächendeckenden Regelungen in eine Hygienediktatur führt. Wir alle müssen zum Schutz unserer Grundrechte, aber auch um Erfahrungswissen für die erfolgreichere Zweckverfolgung zu gewinnen, die Entscheidungsträger konsequent dazu auffordern, mildere Mittel auszuprobieren. Wer das nicht tut, gibt seine/ihre Grundrechte schon deswegen preis, weil die politische Erfolgsrendite im Maximalen liegt.

Insofern haben wir es, wenn uns der Grundrechtsschutz leitet, momentan gerade nicht mit einer Stunde der Exekutive zu tun. Die Exekutive entscheidet momentan in Sonderstäben und Taskforces, d.h. an der Entscheidungsfindung nehmen keine pluralistisch zusammengesetzte Gremien teil, sondern speziell und sehr einseitig zusammengesetzte Expertenrunden. In vielen Ländern entscheiden nicht einmal die Regierungen über die Verordnungen, sondern der Minister. Wenn schon auf dem Verordnungswege entschieden wird, dann wäre es angesichts der grundrechtlichen Relevanz zwingend erforderlich, dass die Regierungen entscheiden, weil im Kabinett wenigstens auch Minister vertreten sind, zu deren Aufgaben die Pflege der anderen Grundrechte gehört. Auch organisationsrechtlich ist momentan nichts falscher als Gesundheitsminister mit einem Sonderverordnungsrecht auszustatten, wie es der Deutsche Bundestag bei der ad hoc-Novelle des Infektionsschutzgesetzes getan hat. 

Wenn es um mildere Mittel, zeitliche Bewertungsfragen und Rechtsgüterabwägungen geht, benötigen wir das Erfahrungswissen aller Verfassungsorgane und der gesamten Zivilgesellschaft. So wie föderative Zuständigkeiten zur Differenzierung der Mittel und ganz natürlich zum Denken in milderen Mitteln führen, so dürfen sich auch die anderen Verfassungsorgane nicht die Kompetenzen von der Exekutive klauen lassen. Das betrifft besonders die Landesparlamente und den Bundestag. Viel zu leichtsinnig werden Kompetenzverschiebungen erwogen. Das betrifft aber auch die Institutionen, die von Verfassungs wegen als Gegenöffentlichkeiten zur demokratischen Willensbildung ausgestaltet und geschützt sind: die Wissenschaft, die Medien, die Kirchen. Ihr verfassungsrechtlicher Schutz (Art. 4, 5 I, 5 III GG) rechtfertigt sich gerade auch aus dem Privileg, der Gesellschaft und dem demokratischen Prozess einen Spiegel vorhalten zu können. Diesen Auftrag müssen sie jetzt auch erfüllen, indem sie die Diskussion um mildere Mittel anfeuern, der Politik damit Entscheidungsspielräume öffnen und den Rückbau der Maximalmaßnahmen erleichtern.

Blumenläden und Parkbänke

Am leichtesten geht dies, indem wir eine Diskussion über Ausnahmen beginnen und dabei auch einmal Kausalitätsannahmen hinterfragen. Denn die Standards juristischer Zurechnungslehren werden in der momentanen Situation erstaunlich gedankenlos ignoriert. Betriebsuntersagungen, Versammlungsverbote und Ausgehverbote setzen lediglich bei der Äquivalenzkausalität an. Warum werden Buchhandlungen und Blumenläden fast überall (aber nicht in allen Ländern!) geschlossen? Nur aufgrund der Logik des shutdown: Ohne kommerzielles Leben keine Kontakte. Ohne Kontakte keine Infektion. Ohne Infektion keine Überforderung des Gesundheitssystems. Das ist die Primitivkausalität der conditio sine qua non. Noch nie hat in juristischen Zusammenhängen eine solche Kausalitätsannahme ausgereicht. Stets bedarf es der Adäquanz, einer normativen Zurechnung, zu der dann spezifische Kriterien herangezogen werden (Schutzzweck der Norm, Risikoerhöhung, Pflichtverletzung), erst recht in der Unterlassensdimension (Garantenstellung).

Niemand kann erklären, warum Buchläden und Blumenläden geschlossen werden müssen, um das Infektionsrisiko kapazitätsgerecht (nicht prinzipiell!) zu reduzieren oder warum es in Bayern untersagt ist, sich auf Parkbänke zu setzen. Es ist eine Beleidigung des Verstandes, wenn sich eine Gesellschaft mit der Begründung zufrieden gibt, das Sitzen Einzelner auf Parkbänken im Münchener Olympiapark sei verboten, weil es der Gruppenbildung Vorschub leiste. Das Sitzen ist schon keine conditio sine qua non für die Infektion, weil die Erfolgszurechnung an doppelter Prognoseunsicherheit leidet (wo einer sitzt, werden automatisch viele sitzen; dann werden sich so viele anstecken, dass die Intensivbetten nicht ausreichen werden). Abgesehen davon, dass es an der Adäquanz immer noch fehlt: Die menschliche Äquivalenzprognose im Rahmen einer weiteren, medizinischen Äquivalenzprognose haben wir rechtsstaatlich noch nie akzeptiert Wer so argumentiert, wie die Bayerische Staatsregierung (in Gestalt der Münchener Polizei), hat den juristischen Verstand verloren.

Vielmehr ist zu fragen: Kann das Schließen von Buchläden einen sinnvollen Beitrag leisten zur kapazitätsgerechten Steuerung des Pandemieverlaufs? Wie wahrscheinlich ist es, dass Buchhandlungen, bekanntlich hotspots des Körperkontakts, Erregerzentren sind? Ist in Bau- und Gartenmärkten (in Bayern geschlossen) nicht genug Platz, so dass sich die Menschen nicht zu nahe kommen brauchen (was schon die voluminösen Einkaufswagen verhindern)? Gilt dasselbe nicht auch für Museen, die mit der Steuerung von Besucherströmen erfahren sind und in denen überdies Aufsichten Ansammlungen von Unvernünftigen entgegenwirken können? Lassen sich nicht Bibliotheken räumlich optimal organisieren?

In diese Richtung ist weiterzudiskutieren: Welches sind Räume, deren Nutzung so organisiert werden kann, dass eine Ansteckungsgefahr gering ist? Auf diese Weise gewinnen wir unsere Freiheiten wieder – wenn wir sie über mildere Mittel einfordern. Und warum sollte sich nicht ein Gottesdienst auch so organisieren lassen: jede zweite Reihe frei und mit Sitzabstand. Die Kirchen sollten jetzt vor allem eins tun: Eine Ausnahme fordern für Gottesdienste an den höchsten christlichen Feiertagen. Wenn sie ihre Grundrechte nicht einfordern, verlieren sie als Institution auch die religiöse Autorität. Die Religionsfreiheit ist dann jedenfalls beliebig abwägbar. Das droht allen Freiheitsrechten, wenn wir als Träger dieser Freiheit nichts dagegen tun, sondern uns mit einem diffusen Regelungsziel „Kampf gegen das Virus“ zufrieden geben und Rechtsgüter nach einer „Systemrelevanz“ differenzieren. 

Systemrelevanz aber ist grundrechtlich kein Belang. Alle Grundrechte stehen normativ auf derselben Stufe und lassen sich nicht in eine Hierarchie bringen. Auch Leben ist nur im Eingriffsfall prinzipiell vorrangig, nämlich beim Tod, und zwar nur deshalb, weil dieser Grundrechtseingriff endgültig ist. Der Tod eines Menschen ist dem Staat nicht auf der Basis von Hypothesen, die mit Äquivalenzkausalität operieren, zurechenbar. Nur unter dieser Bedingung freilich ist nachvollziehbar, warum alle anderen Grundrechte momentan zurückzutreten haben, bis zur Derogation. Die Versammlungsfreiheit ist ganz aufgehoben. Was bleibt von Religions- oder Vereinigungsfreiheit noch übrig? Berufsausübung und Eigentumsnutzung stehen unter dem Vorbehalt der Systemrelevanz. Die Gleichheit wird verletzt, weil manche im Homeoffice weitermachen, während andere, staatlich ausgelöst, die Existenz verlieren. Kultur und Bildung waren als erstes verzichtbar. Der shutdown wurde auf eine Weise organisiert, die keinen Respekt für die individuellen Freiheiten erkennen ließ. Relevante Belange waren Gesundheit und Systemrelevanz. China als Vorbild. In der „Stunde der Exekutive“ wurde der Mensch auf seine nackte physische Existenz reduziert. Genau das aber lässt das Grundgesetz nicht zu: Dies wäre entweder eine Verletzung der Menschenwürde oder doch einmal ein erster Fall für Art. 19 II GG: In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.

Vor allem: Wir wissen zwar nicht, wie sich das dynamische Schutzgut Gesundheitssystem entwickelt, wir wissen eines aber mit Sicherheit: Die Freiheiten werden jetzt verletzt: Jetzt werden die Existenzen vernichtet. Jetzt wird Bildungsungleichheit erzeugt. Jetzt wird auch die Gesundheit vernachlässigt, wenn OPs nicht mehr durchgeführt werden und Zahnärzte Kurzarbeit anmelden. Jetzt werden die Staatsfinanzen ruiniert. Jetzt werden die Mittel für Ausgleichsmaßnahmen disponiert, die wir für Infrastruktur, Klimaschutz und Bildung vorgesehen hatten. Diese Schutzgüter werden jetzt geschädigt. Aber welchen Gesundheitsschutz versprechen wir uns, für den wir Freiheitseingriffe und Finanzrisiken in Kauf nehmen? Will der Staat jedem Patienten eine 14tägige intensivmedizinische Behandlung garantieren? Sollte er das – und damit Erwartungen wecken, die er ersichtlich nicht erfüllen kann? Was wäre bei einem verheerenden Terroranschlag: Ist dann auch jedem Opfer eine intensivmedizinische Betreuung garantiert? Es ist auch hier die Zeitdimension, die wir nicht in den Griff kriegen. Wie erstaunlich, dass der sichere Freiheitseingriff in der Gegenwart eingetauscht wird gegen einen unsicheren Gesundheitsschutz in der Zukunft. Abwägung kann man das jedenfalls nicht nennen.

Für einen Verfassungsjuristen ist es zutiefst deprimierend mitzuerleben, wie die Essentialia grundrechtlichen Denkens in kurzer Zeit zur Disposition stehen: sorgfältige Bestimmung von Schutzgütern? Zweckorientierte Mittelauswahl? Suche nach milderen Mitteln? Kausalität und Zurechnung? Abwägung? Vollzugsföderalismus? Organisationspluralismus? Normenhierarchie (vgl. zu der gesetzesvertretenden Verordnungsermächtigung den Beitrag von Christoph Möllers im Verfassungsblog)? Wir stehen vor Hygienemaßnahmen ganz anderer Art: Der Rechtsstaat ist schwer beschmutzt. Die rechtsstaatliche Hygiene muss dringend wieder hergestellt werden, sonst droht hier das größte Infektionsrisiko.

-Erstveröffentlichung: Max Steinbeis Verfassungsblog GmbH-