Kämpfe in der Grenzstadt Raʾs al-ʿAin am 10. Oktober 2019
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Kampfhandlungen zwischen der Türkei und Syrien, die Flüchtlingssituation und die Konsequenzen für Europa

Von Dr. Stefan Goertz, Bundespolizei, Hochschule des Bundes

Kampfhandlungen zwischen syrischen und türkischen Streitkräften in der syrischen Provinz Idlib kosteten 33 türkischen Soldaten das Leben. Daraufhin setzte die Türkei die militärische Operation „Frühlingsschild“ in Gange, wodurch Tausende syrische Soldaten starben. Dieser Beitrag untersucht die aktuelle Situation in Idlib, die Hintergründe der Aufständischen gegen die Herrschaft des syrischen Präsidenten Assad, die Rolle der Türkei und Russlands in Syrien, die Grenzöffnung der Türkei sowie die aktuelle und zukünftige Flüchtlingssituation und die Konsequenzen für Europa.

Kampfhandlungen in der syrischen Provinz Idlib

Neun Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs in Syrien kontrollieren die Aufständischen nur noch die Provinz Idlib. Der syrische Präsident Bashar Al Asad will allerdings auch diese Region im Nordwesten Syrien zurückzuerobern. Die Türkei will dies jedoch unbedingt verhindern. Die Türkei startete nach Angaben von Präsident Erdogan Ende Februar 2020 umfassende Angriffe in der nordsyrischen Provinz Idlib. Dabei seien Lagerhäuser mit Chemiewaffen sowie Luftabwehrsysteme und Landebahnen der Assad-Truppen zerstört worden. Vorausgegangen war der Tod von mindestens 33 türkischen Soldaten bei einem Luftangriff durch syrische Truppen in Nordsyrien, die Türkei drohte daraufhin mit Vergeltung.1 Nach syrischen Luftangriffen auf türkische Soldaten in der Provinz Idlib am 27.2.2020 sei die Operation „Frühlingsschild“ erfolgreich im Gange, teilte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge mit. Die türkischen Truppen haben seither zwei syrische Kampfflugzeuge, acht Helikopter und 135 Panzer der syrischen Truppen zerstört, zudem mehr als 2.500 syrische Soldaten getötet, sagte Akar.2 Syrische Truppen führen seit Ende 2019 gemeinsam mit russischen Truppen eine Offensive in der letzten Hochburg der Assad-Gegner in Idlib. Dort sind vor allem islamistische und jihadistische Milizen aktiv, die teilweise von der Türkei unterstützt werden.3 Nach Schätzungen der UNO halten sich aber auch rund drei Millionen Zivilisten in dem Gebiet auf.

Syrien drohte der Türkei Anfang März 2020 – nach der Eskalation im Kampf um Idlib – mit heftiger Gegenwehr. Die syrische Regierung bekräftige ihre Entschlossenheit, gegen die „unverhohlene türkische Aggression“ vorzugehen, erklärte das syrische Außenministerium am 2.3.2020. Weiter erklärte das syrische Außenministerium: „Syrien verurteilt entschieden die türkischen Angriffe auf die Souveränität des Landes. Diese zeigten, dass die Türkei weiter in einem Schützengraben mit Terrorgruppen sitze“4.

Blick von den umgebenden Hügeln ins Tal von Idlib
© Von Jamen Schahoud aus der englischsprachigen Wikipedia, CC BY-SA 3.0, https://www.nzz.ch/international/idlib-das-neuste-im-kampf-um-syriens-letzte-rebellenbastion-ld.1536230

Idlib – Die Hintergründe der Aufständischen

Die Provinz Idlib und angrenzende Teile der Provinzen Aleppo, Latakia und Hama sind das letzte signifikante Gebiet Syriens unter Kontrolle der Aufständischen. Die Einwohner der mehrheitlich sunnitischen Region im Nordwesten Syriens waren unter den Ersten, die sich im Frühjahr 2011 gegen die Diktatur des syrischen Präsidenten Bashar Al Assad erhoben. Die syrischen Aufständischen profitierten dabei auch von der Unterstützung der Türkei, die direkt an die Provinz grenzt.5

Wie in anderen Teilen Syriens gewannen in Idlib im Verlauf des Bürgerkrieges islamistische und jihadistische Milizen die Oberhand über moderate und säkulare Oppositionsgruppen. Die einflussreichste Gruppe ist dabei die jihadistische Al Nusra-Front, ein ehemaliger Al Qaida-Ableger. Seit einem Zusammenschluss mit anderen jihadistischen Milizen im Januar 2017 nennt sie sich Hayat Tahrir Al Sham (HTS). Neben der HTS ist auch der Al Qaida-Ableger Hurras Al Din mit einigen tausend Kämpfern in Idlib präsent. Die von der Türkei unterstützte Nationale Befreiungsfront ist dagegen mittlerweile weitgehend marginalisiert.6 Insbesondere die HTS liefert Syrien und Russland die Rechtfertigung für ihre militärische Offensive auf die Provinz Idlib, die HTS, so erklären dies Regierungsangehörige aus Damaskus und Moskau, dass die militärische Offensive sich ausschließlich gegen „Terroristen“ wende.7

Russland will die Ende Januar 2020 begonnene Offensive gegen Aufständische in der Provinz Idlib weiterführen. Dmitrij Peskow, der Sprecher von Präsident Wladimir Putin, erklärte Ende Februar 2020, „terroristische Gruppierungen, die ständig syrische Soldaten angreifen“, müssten „neutralisiert werden“.8 Laut dem Kreml forderte auch Putin selbst in einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron am Donnerstagabend „effektive Maßnahmen zur Neutralisierung der terroristischen Gefahr“, wobei die „Souveränität und territoriale Integrität“ Syriens zu beachten seien.9 Nach dieser Logik erklärt die russische Regierung ihre militärische und finanzielle Unterstützung für den syrischen Diktator Bashar Al Assad, der die Kontrolle über ganz Syrien zurückgewinnen will.

„Katastrophe, Tragödie, Schande“, viele Worte wurden benutzt, um die prekäre Lage der syrischen Bevölkerung zu beschreiben. Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) geht davon aus, dass über 12 Millionen Syrer auf der Flucht sind. Zu fast gleichen Teilen fliehen die Menschen sowohl an Orte innerhalb Syriens als auch außer Landes. Die fünf Länder, die am meisten syrische Flüchtlinge aufgenommen haben sind die Türkei, der Libanon, Jordanien, Deutschland und der Irak.10

Das Treffen von Putin und Erdogan in Moskau

Bei seinem Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdogan am 5.3.2020 beschrieb Präsident Putin die militärischen Angriffe der mit Russland verbündeten syrischen Streitkräfte auf türkische Soldaten, bei denen mehrere Dutzend türkische Soldaten getötet wurden, „als Versehen“: Die mit Russland verbündeten syrischem Streitkräfte seien nicht über den genauen Standort der türkischen Soldaten informiert gewesen, erklärte Putin. Weiter versicherte Putin Erdogan, dass es zu keinen weiteren Angriffen auf türkische Soldaten in Syrien kommen werde.11 Russland und die Türkei einigten sich im Rahmen eines sechsstündigen Treffens der beiden Präsidenten am 5.3.2020 auf einen neuen Anlauf für ein Ende der Kampfhandlungen in der Provinz Idlib und eine Umsetzung des Waffenstillstands.

(v.l.) Hassan Rouhani, Vladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan
© https://www.nzz.ch/international/idlib-das-neuste-im-kampf-um-syriens-letzte-rebellenbastion-ld.1536230

Die humanitäre Katastrophe in Idlib und der europäische Standpunkt

Ende Februar 2020 forderten 14 EU-Außenminister ein sofortiges Ende der Kämpfe um Idlib. „Die furchtbare Lage in Idlib“ müsse entschärft werden, hieß es in einem Appel von EU-Außenministern. Deshalb müsse das syrische Regime die Offensive stoppen. „Wir rufen sie auf, die Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen und ihren Verpflichtungen nach dem humanitären Völkerrecht nachzukommen“, erklärte unter anderem auch der Bundesaußenminister Heiko Maas.12 Die beteiligten 14 EU-Außenminister begründeten ihren Appell mit der humanitären Katastrophe im Norden Syriens: „Hunderttausende Menschen, vor allem Frauen und Kinder, suchen Schutz in provisorischen Lagern und leiden unter Kälte, Hunger und Epidemien.“ Gerichtet war dieser Appell an das syrische Regime und dessen Unterstützer, unter anderem Russland und der Iran. Diese sollten den im Herbst 2018 vereinbarten Waffenstillstand wieder einhalten. Die 14 EU-Außenminister forderten neben der Einstellung der Kampfhandlungen auch den Schutz humanitärer Helfer und medizinischen Personals. Zudem dürfe Russland den UN-Sicherheitsrat nicht daran hindern, „den Mechanismus für den grenzüberschreitenden Transport dringendst benötigter humanitärer Hilfsgüter nach Nordwestsyrien zu erneuern“.13

Grenzöffnung durch die Türkei – die aktuelle Flüchtlingslage

Im Streit um die türkische Grenzöffnung für Flüchtlinge erhöhte der türkische Präsident Erdogan Anfang März 2020 den Druck. „Die Grenzen bleiben offen“, erklärte er. Nun sei es an der EU, ihren „Teil der Last“ zu tragen. „Hunderttausende“ Flüchtlinge hätten sich seit der Grenzöffnung auf den Weg Richtung Europa gemacht, „bald werden es Millionen sein“, sagte Erdogan.14 Die Bundeskanzlerin Merkel nannte seinen Umgang mit Migranten „inakzeptabel“. Infolge der Eskalation des militärischen Konflikts in Nordsyrien hatte die Türkei Anfang März ihre Grenzen für Flüchtlinge geöffnet, die in die EU gelangen wollen. Diesen Schritt begründete die türkische Regierung damit, dass sich die EU nicht an ihre Verpflichtungen aus dem 2016 mit der Türkei geschlossenen Flüchtlingsabkommen halte. Die Türkei hat rund 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen.15 Die EU-Grenzsschutzagentur prognostizierte Anfang März 2020, dass sich die Lage an der türkisch-griechischen Grenze zukünftig stark zuspitzen werde: „Es wird schwierig sein, den massiven Strom von Menschen, die sich auf die Reise gemacht haben, zu stoppen“.16

Eskalation an der türkisch-griechischen Grenze – Konsequenzen für Europa

Anfang März 2020 erhöhte die Türkei den Druck auf die EU, indem sie über Tausend polizeiliche Spezialkräfte an die türkisch-griechische Grenze schickte, um Tausende Flüchtlinge von der Rückkehr in die Türkei abzuhalten. Diese türkischen polizeilichen Spezialkräfte sollen Flüchtlinge daran hindern, zurück in die Türkei zu gelangen, wenn griechische Grenzschützer sie nicht nach Griechenland hineinlassen. Der türkische Innenminister Soylu erklärte am 5.3.2020, dass innerhalb weniger Stunden/Tage 164 Flüchtlinge von griechischen Sicherheitskräften verwundet worden seien. Seitdem die Türkei Ende Februar 2020 die Grenze zu Griechenland öffnete, wollen viele Tausend Flüchtlinge über Griechenland in die EU einreisen.17 Der türkische Innenminister erklärte am 5.3.2020, dass angesichts der Eskalation in Syrien eine Öffnung der Grenze für Flüchtlinge aus der Krisenregion Idlib möglich sei: „3,5 Millionen Menschen in Idlib und an den türkischen Grenzen sind derzeit in Not. Das unmenschliche Verhalten des Regimes dort bedeutet folgendes: auch die Türen dort werden sich öffnen und letztendlich werden sich alle auf den Weg nach Europa machen.“ Er fügte hinzu: „Das ist keine Drohung oder Erpressung.“18

Der griechische Regierungssprecher Stelios Petsas sprach von einer „asymmetrischen Bedrohung der Sicherheit unseres Landes“. Er kritisierte die Türkei, die mit der Öffnung ihrer Grenzen diplomatischen Druck ausüben wolle. Die türkische Regierung sei damit „selbst zum Schlepper“ geworden.19
Der deutsche Außenminister Maas teilte Anfang März 2020 mit, dass Deutschland der UNO 100 Millionen Euro zusätzlich für die Unterbringung und Versorgung Not leidender Menschen in der Provinz Idlib anbiete.

Straße entlang des Flüchtlingscamps Moria
© Von Cathsign - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://www.nzz.ch/international/idlib-das-neuste-im-kampf-um-syriens-letzte-rebellenbastion-ld.1536230

Fazit

Eine Prognose der humanitären und sicherheitspolitischen Situation Syriens zeichnet ein düsteres Bild. Die iranische und russische Beteiligung am Syrien-Krieg haben militärische und finanzielle Abhängigkeiten des Systems Assad entstehen lassen, die noch auf viele Jahre hinweg russischen und iranischen Einfluss auf Syrien ausüben werden. Auch der Konflikt zwischen Kurden und der Türkei wird auch in der Zukunft auf syrischem Territorium ausgetragen werden. Eine Perpetuierung von Bürgerkrieg und Gewalt gegen die Zivilbevölkerung Syriens wird auch die mittelfristige Zukunft des Landes bestimmen. Entsprechend werden Millionen Syrer mittelfristig nicht nach Syrien zurückkehren und vor allem – aber nicht ausschließlich – in der Türkei, im Libanon, in Jordanien, Deutschland sowie anderen europäischen Staaten und im Irak leben. Sowohl die katastrophale humanitäre Lage in der syrischen Provinz Idlib als auch die Folgen der türkischen Grenzöffnung werden in den nächsten Monaten und Jahren massive Konsequenzen für Europa haben.

 

Quellen:

1  https://www.nzz.ch/international/idlib-das-neuste-im-kampf-um-syriens-letzte-rebellenbastion-ld.1536230 (19.3.2020).
2  https://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-angriff-syrien-101.html (19.3.2020); https://www.tagesschau.de/ausland/grenze-tuerkei-griechenland-107.html (19.3.2020).
3  https://www.tagesschau.de/ausland/tuerkei-angriff-syrien-101.html (19.3.2020).
4  https://www.nzz.ch/international/idlib-das-neuste-im-kampf-um-syriens-letzte-rebellenbastion-ld.1536230 (19.3.2020).
5  Ebd
6  Ebd.
7  https://www.dw.com/de/idlib-akteure-und-interessen/a-52383387 (19.3.2020).
8  https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/russland-will-offensive-in-idlib-fortsetzen-16645058.html (19.3.2020).
9  Ebd.
10  https://www.nzz.ch/international/syrien-antworten-zur-lage-im-syrien-konflikt-ld.1377102 (19.3.2020).
11  https://www.welt.de/politik/ausland/article206343889/Treffen-mit-Erdogan-Putin-beschreibt-Angriffe-auf-Tuerken-als-Versehen.html (19.3.2020).
12  https://www.tagesspiegel.de/politik/humanitaere-katastrophe-in-syrien-14-eu-aussenminister-fordern-sofortiges-ende-der-kaempfe-um-idlib/25583690.html (19.3.2020).
13  Ebd.
14  https://www.dw.com/de/türkei-droht-eu-mit-millionen-flüchtlingen/a-52602396 (19.3.2020).
15  Ebd.
16  Ebd.
17  https://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-schickt-1000-soldaten-an-die-grenze-a-cb860219-2e68-4a9e-a206-fbe26eb3799a (19.3.2020).
18  Ebd.
19  https://www.spiegel.de/politik/ausland/griechenland-reagiert-auf-fluechtlinge-lesbos-im-ausnahmezustand-a-5146e0ee-8725-4ff2-9a1f-875aab299a6f (19.3.2020).

Über den Autor
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz
Prof. Dr. Stefan Goertz, Professor für Sicherheitspolitik, Schwerpunkt Extremismus- und Terrorismusforschung, Hochschule des Bundes, Fachbereich Bundespolizei
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