Illustration um 1790
© Von The drawing is unsigned and undated, but was published in London in 1792 (see note below). Attribution is given the term Port Jackson Painter. - from the First Fleet Artwork Collection at The Natural History Museum, London here, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=57684536

Der Schwarze Schwan ist gelandet

Von Herbert Saurugg, MSc

Hätte vor wenigen Wochen irgendjemand die heutige Situation in Europa skizziert, wäre er wohl für verrückt erklärt worden. Doch in der Zwischenzeit ist der „Schwarze Schwan“ gelandet. Er ist ein Synonym für extrem seltene Ereignisse mit enormen Auswirkungen. Doch wie geht es weiter? Derzeit gibt es wesentlich mehr Fragen als Antworten und das dürfte sich nicht so rasch ändern. Eines erscheint jedoch bereits absehbar: Die Welt, wie wir sie bisher kannten, wird nicht zurückkehren.
Anfang 2020 breitete sich in China eine neue Infektionskrankheit aus. Nicht zum ersten Mal nahm eine Epidemie oder Pandemie, also eine länderübergreifende bzw. weltweite Epidemie, ihren Ausgang in China. Jedoch konnten diese bisher immer gut eingedämmt und beherrscht werden. Doch diesmal ist alles anders.

In Mitteleuropa wurde man erstmals hellhörig, als berichtet wurde, dass binnen 10 Tagen ein komplettes Spital aus dem Boden gestampft wurde, um die Notversorgung in der hauptbetroffenen Region aufrechterhalten zu können. Da sind wohl einige Planer in Mitteleuropa neidisch geworden. Auch die Witzesammlung rund um den Flughafen Berlin-Brandenburg wurde erweitert. Die massiven Abriegelungsmaßnahmen und die unter Quarantänestellung von Millionen Menschen löste hier meistens nur Kopfschütteln aus: „So etwas geht nur in China.“ Wie rasch sich die Realität ändern kann.

Mittlerweile ist wohl auch bei uns den meisten das Lachen vergangen. Denn diesmal hat sich die Epidemie nicht eindämmen lassen und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erklärte diese am 11. März 2020 zur COVID-19-Pandemie, der ersten nach der „Schweinegrippe“ im Jahr 2009/2010. Der relativ glimpfliche Verlauf von damals in unseren Breiten hat wohl auch dazu beigetragen, dass COVID-19 lange unterschätzt bzw. heruntergespielt wurde. Zum anderen wollte man sich wahrscheinlich nicht wieder der Gefahr aussetzen, im Nachhinein für Überreaktionen angeprangert zu werden. Ein fataler Irrtum.

Mittlerweile gilt Italien und Europa insgesamt als zweitgrößter Hotspot weltweit. Millionen Menschen stehen nun auch in Europa mehr oder weniger unter Quarantäne. Grenzen wurden und werden geschlossen. Es herrscht ein Ausnahmezustand und wir stecken mittlerweile in der größten und schwerwiegendsten Pandemie seit zumindest 100 Jahren. Und das ist wohl erst der Beginn einer Kettenreaktion, wie wir sie uns noch nicht vorstellen können. Das passt alles nicht in unser bisher erfolgreiches lineares Denken und Weltbild. Es rächt sich die Ignoranz von Kennzeichen komplexer Systeme.

Komplexität entsteht durch Vernetzung. Durch das Internet, die Globalisierung und den globalen Warenströmen wurde ein unfassbar komplexes System geschaffen, über dessen potenziell negativen Nebenwirkungen wir bisher kaum nachgedacht haben. Zumindest in der breiten Masse und Politik. Mahnende Stimmen gab es genug. Diese wurden aber meist ignoriert und als Schwarzmaler abgetan.

Das liegt auch am Bildungssystem, das noch weitgehend auf die bisher bewährten Strukturen der Industriegesellschaft beruht und in Fächern, Disziplinen oder Instituten organisiert ist. Komplexe Systeme lassen sich nicht mit einem deterministischen Denken erfassen oder beherrschen, auch wenn das bei (komplizierten) Maschinen gut funktioniert.

Komplexe Systeme, wo es permanent zu einem Austausch, zu Rückkoppelungen und Veränderungen kommt, können mit den bisherigen Werkzeugen nur beschränkt beherrscht werden. Das funktioniert in stabilen Zeiten durchaus, wie wir das bisher mehr oder weniger erlebt haben. Und das verleitet auch zu falschen Schlüssen: Es geht ja eh. Zumindest bis zum Zeitpunkt, wo eine zu große Störung alles aus dem Gleichgewicht bringt. Eine kleine Ursache, die zu großen Auswirkungen führen kann.

 COVID-19 (Coronavirus SARS-CoV-2)
© Robert Koch-Institut

Ein Virus in der Größe von wenigen Nanometern löst wahrscheinlich gerade die weitreichendste Neuordnung der Welt seit dem Zweiten Weltkrieg aus. Das mag jetzt ziemlich übertrieben klingen. Aber wir stehen erst ganz am Anfang.

Es wurde eine Lawine losgetreten, und wir können noch in keiner Weise abschätzen, wo sie zum Stillstand kommen wird. Es zeichnen sich aber bereits jetzt eine Reihe von Folgekrisen ab, auf die weder die Menschen noch die Unternehmen oder die Staaten insgesamt vorbereitet sind. Derzeit liegt der Fokus auf den kurzfristigen Entwicklungen, vor allem im Gesundheitsbereich. Das ist wichtig, um die unmittelbar lebensbedrohlichen Schäden zu minimieren. Aber das wird bei weitem nicht ausreichen, um die erwartbaren weiteren Folgen bewältigen zu können. Je früher wir uns aber darauf einstellen und ausrichten, desto leichter wird es uns gelingen, wieder Fuß zu fassen.

Denn ein weiteres Kennzeichen von komplexen Systemen ist die Irreversibilität. Das bedeutet, dass wir nicht mehr einfach zu einer Welt zurückkehren werden, wie sie für viele Menschen noch vor wenigen Wochen als völlig unverrückbar wahrgenommen wurde. Viele Menschen wurden bereits in den vergangenen Monaten und Jahren von der steigenden Dynamik in der Arbeitswelt gefordert und zum Teil auch überfordert. Eine steigende Dynamik ist ein weiteres Kennzeichen von komplexen Systemen, wenn sie falsch designt sind bzw. die Rückkoppelungsmöglichkeiten nicht ausreichend berücksichtigt werden. Die jetzige Dynamik stellt aber wohl vieles in den Schatten und sie wird in den nächsten Wochen wahrscheinlich noch deutlich zunehmen. Hoffen wir, dass sie nicht im völligen Chaos endet. Wobei der Kollaps von komplexen Systemen kein Fehler ist, sondern ganz im Gegenteil, ein Designmerkmal: Damit wird in der Natur eine periodische Erneuerung und Anpassung sichergestellt. Auch das ist selten bekannt und bewusst. Alles Lebendige ist in komplexen Systemen organisiert, die mit der Umwelt interagieren. Damit der Schaden nicht zu groß werden kann, hat sich evolutionär „small-is-beautiful“ durchgesetzt. Etwa, in Form von zellularen Strukturen.

Die Politik versucht zu vermitteln, alles im Griff zu haben: „Wir sind auf alle Szenarien vorbereitet.“ In der Realität zeigt sich jedoch häufig, dass Vorbereitung durch Improvisation ersetzt wird. Durch „Quick-and-dirty“ Lösungen entsteht sogar die Gefahr, das Ganze noch zu verschlimmern. Denn wie aus der System- und Komplexitätswissenschaft bekannt ist, führen scheinbar kurzfristig erfolgreiche Lösungen häufig langfristig zu mehr Problemen und Schäden. Langfristig erfolgreiche Lösungen erfordern hingegen meist kurzfristige Einschnitte und Entbehrungen. Man denke hier nur an das Change-Management. Aktionismus ist daher gefährlich, da sich jeder Eingriff in ein komplexes System an vielen unterschiedlichen Stellen und vor allem auch zeitverzögert auswirkt. Mit einem einfachen Ursache-Wirkungsdenken ist das Scheitern vorprogrammiert. Hier rächt sich auch, dass wir die Möglichkeit einer Pandemie oder eines europaweiten Strom- und Infrastrukturausfalls („Blackout“) bisher ignoriert haben und jetzt natürlich unter enormen Zeitdruck handeln müssen.

 © BKK

Daher ist auch entscheidend, dass bei weitreichenden Entscheidungen auch die potenziellen und langfristigen Nebenwirkungen mitbetrachtet werden. Was derzeit nicht erkennbar ist.

Mit dem aktuellen „Lockdown“ und den wirtschaftlichen Einbrüchen steigt auch die Gefahr für ein Blackout. Die Energieversorgungsunternehmen beteuern, dass sie alles unternehmen, um die Versorgungssicherheit und die Handlungsfähigkeit des eigenen Personals aufrechtzuerhalten. Jedoch gibt es eine Reihe von Faktoren, welche neben der potenziellen Erkrankung von wichtigem Personal die Systemstabilität gefährden. So kommt es durch den Wirtschaftseinbruch zu einer sinkenden Stromnachfrage. Damit entsteht zum Teil zu bestimmten Zeiten ein enormer Stromüberschuss. Aufgrund der derzeitigen regulatorischen Vorgaben, speziell in Deutschland, muss aber Strom aus Erneuerbare Energien (EE) Erzeugungsanlagen vorrangig abgenommen werden. Zusätzlich werden durch die sinkenden Strompreise konventionelle Kraftwerke aus dem Markt gedrängt (Merit-Order-Effekt). Konventionelle Kraftwerke können mit dem erwirtschaftbaren Strompreis bereits jetzt nicht mehr die Betriebskosten decken.

Was zwar für den Klimaschutz erfreulich ist, führt gleichzeitig zu wenig beachteten Nebenwirkung. Diese betreffen vor allem die rotierenden Massen (Generatoren), welche ohne Steuerungseingriffe die immanente und systemkritische Stabilität und Ausregelung des fragilen Systems sicherstellen. Zusätzlich verzögert sich der Bau von für die Energiewende unverzichtbaren Speichersystemen, wie Pumpspeicherkraftwerken oder rasch einsetzbaren, flexiblen Kraftwerken, um die volatile Erzeugung aus Windkraft- und PV-Anlagen ausgleichen zu können. Es rechnet sich einfach nicht, diese zu bauen. Ein gefährlicher Teufelskreis.

Hinzu kommt, dass das europäische Stromversorgungssystem zu den „too-big-to-fail“ Systemen gehört. Aufgrund des vorrangigen betriebswirtschaftlichen Fokus zählte in den vergangenen Jahren fast nur mehr der Markt. Reserven und Redundanzen mussten auch hier wie in allen anderen Bereichen als „totes Kapital“ zurückgefahren werden und damit auch die ehemalige zellulare Struktur. Das spiegelt sich vor allem im grenzüberschreitenden Stromaustausch wider, der zudem deutlich erhöht werden soll. Störungen können sich daher heute wesentlich leichter ausbreiten, wenn sie einmal eine gewisse Größe erreicht haben. Das haben wir gerade bei der Ausbreitung der Pandemie gesehen.

Ein weiteres massives Problem wird durch die langen Transportwege erst in den nächsten Wochen sichtbar werden. Lieferverzögerungen und -unterbrechungen von Waren aus China und wohl bald auch aus anderen Weltgegenden, ja selbst in Europa. Während das in einigen Bereichen derzeit eher nebensächlich ist, weil etwa die ganze Autoindustrie heruntergefahren wird, kann das im medizinischen Umfeld und bei der Medikamentenversorgung zu dramatischen Konsequenzen führen. Ein Großteil der Medikamenten- und vor allem Antibiotikaproduktion erfolgt mittlerweile in China und Indien. Indien ist der weltgrößte Generikahersteller und bezieht gleichzeitig rund 70 % der Ausgangsstoffe aus China.

 Traditionelle Auffassung einer Lieferkette als Triade um ein Unternehmen; die Pfeile symbolisieren Lieferantenpflege, Internes SCM und Kundenpflege.
© Von Stern - Own work by uploader, cf. Chen, Paulraj (2004), CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4971137

Eine Unterbrechung der Lieferketten („Supply Chains“) gehört seit Jahren zu den gefürchtetsten Top-Risiken in Unternehmen. Die aktuelle und noch erwartbare Dimension war wohl für kaum einen Risikomanager vorstellbar. Nicht einmal in den schlimmsten Alpträumen. Noch weniger klar ist, wie die ganze Synchronisation wiederhergestellt werden kann und wie lange es dauern wird.

Eine Massenarbeitslosigkeit zeichnet sich bereits ab und viele kleinere Unternehmen werden die nächsten Wochen nicht überstehen. Aber auch viele große werden ins Wanken geraten, nicht zuletzt, weil sie auch häufig von den kleinen abhängig sind. Das ganze Wirtschaftssystem gerät aus den Fugen. Hinzu kommt, dass wir aus den Systemwissenschaften wissen, dass ein System, das nur durch permanentes Wachstum überleben kann, nicht lebensfähig ist. Hier zeichnet sich eine dramatische Bereinigung ab.

Und damit sind wir wohl auch mitten im größten Finanzcrash, den es jemals gab. Galt bisher häufig „so lange die Musik spielt, einfach weitertanzen“, dürfte die Party nun endgültig vorbei sein. Denn hier gibt es kein Auffangnetz mehr, auch wenn jetzt Milliarden und Abermilliarden in Aussicht gestellt und ins System gepumpt werden. Das zerstörte Grundvertrauen und der tiefe Schock wird nicht so einfach zu überwinden sein. Man erinnere sich nur an die letzte Finanzkrise vor nicht einmal 15 Jahren. Eine Dystopie könnte wohl nicht schlimmer ausformuliert werden.

Wie kann es nun weitergehen? Dazu ist es wohl noch viel zu früh, um eine seriöse Einschätzung abgeben zu können. Eins ist aber klar: Ein weiter wie bisher ist äußerst unwahrscheinlich. Schon Albert Einstein hat dazu gesagt, dass man Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen kann, mit der sie entstanden sind.

Grundsätzlich gibt es ein umfangreiches Know-how, wie sich in der Natur lebensfähige (komplexe) Systeme bewährt und überlebt haben: „Small-is-beautiful“, Energiebedarfssenkung, dezentrale funktionale Einheiten, Fehlerfreundlichkeit, sind nur ein paar wichtige Stichwörter, die uns weiterhelfen können. Wenn wir wieder eine robuste Gesellschaft werden wollen, werden wir uns an diesen erfolgreichen Designprinzipien orientieren müssen.

Auch wenn das jetzt für Viele hart und übertrieben klingen mag, wird es wahrscheinlich wenig bringen, den Kopf weiterhin in den Sand zu stecken. Resilienz bedeutet eben nicht nur Widerstandsfähigkeit, sondern vor allem Lern- und Anpassungsfähigkeit. Je früher wir die neue Realität akzeptieren und neue Lösungswege ausprobieren, desto eher werden wir wieder eine neue Stabilität erreichen. Und das ist die positive Aussicht: Nach jedem schweren Rückschlag und Schock ging es in der Menschheitsgeschichte langfristig besser weiter. Wir haben nun nicht nur eine unvorstellbare Krise vor uns, sondern auch eine große Chance, die bisherigen Dinge und Verläufe zu hinterfragen und neu zu organisieren. Beginnen wir damit jetzt und dokumentieren wir vor allem Dinge, die gut gelaufen sind und auch jene, die nicht gut gelaufen sind, damit wir die Geschichte nicht wiederholen müssen.

 

Hinweis: Dieser Beitrag wurde am 20.03.20 fertig gestellt und spiegelt den Stand der Erkenntnisse zu diesem Zeitpunkt wider.
Aufgrund der aktuellen hohen Dynamik sind wahrscheinlich bis zur Publikation bereits neue Umstände hinzugekommen.
Der Beitrag wagt eine längerfristige Perspektive und sollte daher auch zum Publikationszeitpunkt noch aktuell sein.