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Mercedes-Benz T2
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Kaltblütigkeit und Brutalität

Der Überfall von Frankfurt am Main ist ein alarmierendes Beispiel für eine Zunahme der Gewalt

Von Klaus Henning Glitza

Weniger Straftaten, aber mehr Gewalt. Das ist die kurzgefasste Quintessenz der Polizeilichen Kriminalstatistik. Bei den Kriminellen fallen offenbar die letzten Hemmschwellen. Kaum einer weiß das besser als ein 56-jähriger Mitarbeiter des Geldtransportunternehmer Prosegur, der am 9. November vor dem IKEA-Möbelhaus im Frankfurter Stadtteil Nieder-Eschbach überfallen wurde.
An Kaltblütigkeit und Brutalität ist die Straftat kaum zu überbieten. Als der 56-Jährige gegen 11.30 Uhr den IKEA-Seiteneingang verlässt. stürzt ein Mann auf ihn zu und versucht ihm, die Geldkassette zu entreißen. „Nach einer kurzen Rangelei gelang es dem Täter, die Geldkassette an sich zu bringen“, berichtet die Polizei. Dann kommt es zu einem Schusswechsel, dessen konkreter Verlauf trotz Zeugenaussagen noch nicht definitiv geklärt ist. Einige sagen aus, dass der Räuber, obwohl er die Beute bereits in den Händen hielt, auf den Geldfahrer geschossen hätte. Andere geben an, der Sicherheitsdienstmitarbeiter habe zuerst geschossen. Zeugenaussagen sind immer so eine Sache für sich. Übereinstimmend sind aber die Aussagen, dass der Räuber auf den Bauch des Prosegur-Mannes gezielt habe. Doch er trifft statt dieser empfindlichen Körperregion seinen Oberschenkel. Die Spurensicherung stellt später fest, dass mehr als zwei Schüsse abgegeben wurden. In der Beifahrertür des Geldtransporters wird ein Projektil aufgefunden.

Die Verletzung ist schlimm genug. Der 56-Jährige verliert viel Blut und kommt ins Krankenhaus, wird am Bein notoperiert. Er ist außer Lebensgefahr, befindet sich auf dem Weg der Besserung. Den Umständen entsprechend gehe es ihm verhältnismäßig gut, ist zu hören. Ein Treffer in den Bauch hätte mit Sicherheit schlimmere Folgen nach sich gezogen. Der Täter hat dies billigend in Kauf genommen. Eine menschenverachtende Brutalität wie man sie sattsam von OK-Strukturen kennt.

Der Täter, 40 bis 45 Jahre alt, zirka 1,80 bis 1,85 Meter groß und kräftig, flieht zunächst zu Fuß. Vermutlich außerhalb des Parkplatzes steigt er mit einem weißen Kapuzenpullover und einer weiß gestreiften schwarzen Trainingshose in einem Audi A 8 um. Dieses Oberklassen-Fahrzeug wird später unweit des Tatortes ausgebrannt vorgefunden. Eine gängige Art, sämtliche auf den Täter hinweisenden Spuren zu vernichten. Es liegt nahe, dass der Räuber in ein weiteres Fahrzeug umgestiegen und dann über die nahe Autobahn A661 entkommen ist. Eine Sofortfahndung, bei der auch ein Hubschrauber eingesetzt wurde, bleibt ohne Erfolg.

Der Täter geht nach einem bereits bekannten Schema vor. Der Audi ist in den Niederlanden entwendet worden, die Kennzeichen wurden im Landkreis Offenbach gestohlen. Für ein solches Vorgehen gibt es etliche Parallelen. Auch in Köln-Godorf, wo am 24. März 2018, ebenfalls vor einem IKEA- Möbelhaus, ein Geldtransporter überfallen wurde, war ein in den meisten Details identischer Modus operandi zu beobachten. Auch ein Überfall auf einen Supermarkt Limburg weist Übereinstimmungen auf. Auch liefen in Norddeutschland verübte Überfälle auf Geldtransporter nach ähnlichem Muster ab.

Hier kommt eine mögliche Täterstruktur ins Spiel, die viele schon als Schnee von gestern angesehen haben. Die Rote Armee Fraktion, die RAF. Genauer gesagt die „RAF-Rentner“, ein aus Ernst-Volker Staub, (63) Burkhard Garweg (49) und Daniela Klette (59) bestehendes Trio. Schon seit vielen Jahren stehen diese abgetauchten Ex-Terroristen der dritten RAF-Generation unter dem Verdacht, Überfälle zu begehen, um seit mehr als 30 Jahren ihr Leben im Untergrund zu finanzieren. Ihre Lieblingsobjekte: Geldtransporter.

War das Trio in den Überfall involviert, kommt aufgrund der Täterbeschreibung (Größe und Alter) nur Garweg infrage. Da in Ermittlerkreisen nicht von einem Einzeltäter, sondern von tatbeteiligten Komplizen ausgegangen wird, hätte es eine gewisse Logik, wenn sich die lebensälteren Ex-RAF-Aktivisten im Hintergrund gehalten haben. Doch belastbare Hinweise auf eine tatsächliche Tatbeteiligung liegen weder beim Landeskriminalamt Niedersachsen (federführend bei der Fahndung nach den „RAF-Rentnern“) noch bei den aktuell ermittelnden Polizeibehörden in Hessen und NRW vor.

Wahrscheinlicher ist, dass die Überfälle vor den IKEA-Möbelhäusern in Köln und Frankfurt am Main auf das Konto ein und derselben Täterstruktur gehen. Bei beiden Raubtaten ähneln sich nicht nur einzelne Details, sondern der komplette Tatverlauf war nahezu identisch. Nicht nur, dass das Fluchtfahrzeug von Köln gleichfalls in den Niederlanden (Amsterdam) gestohlen und mit einem in Deutschland entwendeten Kennzeichen versehen wurde. Nach EM-Information gibt es weitere Übereinstimmungen, die aber derzeit aus ermittlungstaktischen Gründen unter der Decke gehalten werden.

Die Frankfurter und Kölner Polizeibehörden stehen jedenfalls in regem Informationsaustausch. Auch mit dem Landeskriminalamt Niedersachsen, wurde in Sachen RAF-Trio Kontakt aufgenommen. Allerdings glauben die niedersächsischen LKA-Beamten weniger, dass die Ex-Terroristen die Überfälle verübten.

Bei der Tätersuche sind Polizei und Staatsanwaltschaft nicht in entscheidendem Maße weitergekommen. „Die hier wegen des Verdachts des versuchten (Raub-) Mordes geführten Ermittlungen dauern weiterhin an. Es wird in alle Richtungen ermittelt, das heißt, es werden natürlich auch mögliche Zusammenhänge zu ähnlich gelagerten Überfällen (wie zum Beispiel in Köln) geprüft“, teilt die Oberstaatsanwältin Nadja Niesen mit. So spricht man bekanntlich, wenn es keine heiße Spur gibt.

Fest steht im Augenblick, dass die Überfälle mit hoher Wahrscheinlichkeit einer international operierenden Bande zuzuschreiben sind. Ermittler konstatieren einen hohen Planungsgrad, den man in dieser Form nur aus der professionell agierenden Bandenkriminalität kenne. Aus Ermittlersicht konnte die Tat nur nach vorheriger systematischer Auskundschaftung des späteren Tatortes realisiert werden. „Das waren ganz sicher Profis“, heißt es. Eine Spontantat kann jedenfalls kategorisch ausgeschlossen werden.

 Typischer Aufbau eines IKEA-Möbelhauses, hier in Koblenz
© Schaengel, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6671546

Was lässt sich aus der Raubtat ableiten? Es ist davon auszugehen, dass große Supermärkte und beliebte Möbelhäuser auch weiterhin auf der Liste der Kriminellen ganz oben stehen werden. Die Flächen vor solchen Handelshäusern sind tendenziell unsichere Zonen. Dass sich dort viele Menschen bewegen, ist Normalität. Dass sich Personen länger in Fahrzeugen aufhalten, zum Beispiel, um auf ihren einkaufenden Ehepartner zu warten, ebenfalls. Mindestens bei einem der Überfälle soll der Täter eine Warnweste getragen haben, um auf dem Parkplatz geschäftig zu wirken und dadurch nicht aufzufallen.

All diese Punkte bringen es mit sich, dass der Tatort gut ausbaldowert werden kann. Im Gegensatz zum Vorfeld von Geldinstituten, wo jeder ungewöhnlich Handelnde oder länger Wartende schnell in den Fokus kommt, tauchen vor Supermärkten/Möbelhäusern Einzelpersonen oder kleine Gruppen in der Masse unter. Der Mensch deckt den Menschen, wissen Observanten. Vor größeren Einzelhandelseinrichtungen gibt es zudem oft auch Bratwurststände und so weiter, die ein längeres Verweilen ermöglichen.

Ein weiterer Vorteil für die Täter: Möbelhäuser und Supermärkte befinden sich oft am Stadtrand oder auf der „Grünen Wiese“ und sehr oft in Autobahnnähe. Das hat seine guten Gründe, ist aber leider auch für Ganoven eine ideale Option.

Schon deshalb, aber auch wegen der erwarteten hohen Beute kann davon ausgegangen werden, dass auch künftig die großen Einzelhandelseinrichtungen bevorzugtes Zielobjekt sein werden. In Frankfurt am Main fiel dem Täter oder den Tätern nach zuverlässigen Angaben mehr als die Tageseinnahme des Samstagvormittags in die Hände. Man muss kein Prophet sein, um zu folgern, dass es sich dabei wahrscheinlich um eine fünf- bis sechsstellige Summe handelte.

Viele Geldtransportunternehmen, aber längst nicht alle, haben den Vorfall zum Anlass genommen, ihre Mitarbeiter noch einmal gründlich zu sensibilisieren und sie im Blick auf die Waffensachkunde auf den neusten Stand zu bringen.

Aber auch der Handel ist gefordert. In einem benachbarten Land beobachtete der Autor dieses Beitrages, wie vor einem großen Supermarkt zwei bis drei Wachleute mit Langwaffen im Anschlag die Geldboten absicherten. Der Supermarkt war zu diesem Zeitpunkt bereits geschlossen, so dass sich keine weiteren Personen oder Fahrzeuge auf dem Parkplatz befanden. Das ist sicherlich nicht 1:1 auf deutsche Verhältnisse übertragbar, zeigt aber, wie in anderen Ländern das Sicherheitsthema betrachtet wird. Wer sieht, wie sich manchmal Mitarbeiter von Geldtransportunternehmen durch Menschenmassen zwängen und sich in dieser Zeit auf höchst unsicherem Terrain bewegen müssen, dem stellt sich unvermeidlich die Frage der Sicherheit.

Silke Wollmann Pressesprecherin der Bundesvereinigung Deutscher Geld- und Wertdienste (BDGW), ist der Auffassung, dass bei Neubauten von Supermärkten & Co. auch baulich dafür gesorgt werden muss, dass die Geldentsorgung sicher vonstatten gehen kann. Das wäre im Interesse aller Beteiligten.

Das Unternehmen IKEA hat bereits verlauten lassen, es werde aus gegebenem Anlass Routinen und Ablaufprozesse auf den Prüfstand stellen. Sofern dieser Ankündigung Taten folgen, wäre das ein schöner Start in eine neue Art von Sicherheit.

 

Über den Autor
Klaus Henning Glitza
Klaus Henning Glitza
Klaus Henning Glitza, Jahrgang 1951, ist Chefreporter dieser Online-Publikation. Der Fachjournalist Sicherheit erhielt 2007 den Förderpreis Kriminalprävention; seit vielen Jahren ist er Mitarbeiter im Verband für Sicherheit in der Wirtschaft Norddeutschland und Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Kriminalistik. Vormals war er Redakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung und dort u. a. zuständig für Polizeiangelegenheiten.
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